DEUTSCHLANDREISE 2022

Holiday on Gleis - mit Covid 22 durch die Republik!




Prolog:
Nach über zwei Jahren ist Corona im Sommer 2022 zu so etwas wie einem ungebetenen, aber hartnäckigen Begleiter geworden. Man ist sich der potenziellen Gefahr bewusst, die von dem Virus noch immer ausgeht. Doch ein Stückweit hat man sich mit ihm arrangiert, ihn im Alltag vielleicht sogar ausgeblendet, zumal die in der Corona-Frühzeit Anfang 2020 noch in den Köpfen herumschwirrende Gleichung "wer Covid 19 hat ist schon so gut wie tot" mit jeder Mutation und mit jeder Impfung etwas mehr von ihrem Schrecken verloren hat. Ob dies berechtigt oder leichtsinnig ist, vermag ich als Gesundheitslaie nicht zu beurteilen. Nur soviel: bislang hat mich der sternförmige Quälgeist verschont. Hoffentlich bleibt es so, wenn dieser Wunsch einmal ganz uneigennützig geäußert werden darf.

Die neue Normalität machte sich anno 2022 auch auf der Reise durch Deutschland bemerkbar: das Volk ist wieder unterwegs. Fast so, als wollte es nun wortwörtlich in vollen Zügen all das nachholen, was in den vergangenen zwei Sommern nur eingeschränkt oder gar nicht möglich (oder zumindest nicht offiziell gestattet) war. Fast schon ungewohnt war es, das Menschentreiben auf manchen Stationen, in manchen Zügen, aber auch in manchen Städten. Corona? Was ist das? Einzig die im öffentlichen Verkehr nach wie vor geltende Maskenpflicht erinnerte daran, dass der eingangs genannte Begleiter doch noch irgendwie mit an Bord war. Offenbar aber nur in Bussen und Zügen, denn an nahezu allen anderen öffentlichen Orten - selbst in ausverkauften Fußballstadien oder im Sommerschlussverkauf am Karstadt-Grabbeltisch - ist die Pflicht zum Tragen von Maultäschle oder Schnutenpulli längst aufgegeben worden. Wen wundert es bei dieser, sagen wir, Inkonsequenz, dass die Maskendisziplin in der Bahn quasi täglich sank?
Andererseits heißt es ja, dass Produkte made in China nach zwei, drei Jahren ohnehin nicht mehr funktionieren. Vielleicht ist das bei diesem Viren-Import aus Fernost ja auch der Fall. Nun, nächstes Jahr wissen wir mehr.

Als ein weiterer, jedoch wesentlich angenehmerer Begleiter war im Sommer 2022 das 9-Euro-Ticket mit an Bord. Einmal pro Monat kaufen und dann für 30 Cent am Tag in ganz Deutschland den kompletten Nahverkehr benutzen - also, das war einmal eine Ansage! Was als politische Entlastungsmaßnahme gegen hohe Energiekosten von der Bundesregierung geplant war, entwickelte sich mit ganz wenigen Ausnahmen zu einem Sommermärchen auf der Schiene. Millionen von Menschen entdeckten ihre Eisenbahn neu, und in den allermeisten Fällen wurden sie auch nicht enttäuscht. Nicht ganz nachvollziehbar war hingegen, dass man beispielsweise in den Dampfzügen der Harzer Schmalspurbahnen mit dem Billigticket reisen durfte, die etwa 480 Mal teurere Netzkarte "Bahncard 100" aber nicht anerkannt wurde. Willkommen im Tarif-Babylon Deutschland... So war ich dieses Jahr einmal mit zwei Fahrkarten unterwegs.

Auch 2022 fand die Reise nicht in einem Stück statt, sondern als mehrere Mehrtagestouren. Dazwischen ging ich auch das ein- oder andere Mal arbeiten, familiäre Termine riefen, oder andere Gründe veranlassten mich zu einer vorübergehenden Rückkehr in die eigenen vier Wände. Diese "Werkstattanbindungen" sind nicht alle dargestellt, sodass der Reisebericht wie in einem Reise-Rutsch durch unser schönes Land daherkommt.

Durch ein Land, in dem es überall noch so viel zu entdecken gibt! Einsteigen bitte!


Quelle: ältere Streckenkarte der DB.

Tag 1:
Ein paar Tage ohne Arbeit, eine halbwegs beständige Wetterprognose… also mal losgefahren, mal sehen, wohin. Leider ist es Freitag, mithin der Hauptkampftag auf den Gleisen. Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof treffen sich mittags gegen 12 Uhr Berufspendler, Urlaubsreisende, Wochenend-Heimkehrer und ich. Einer ist hier zuviel, und ich bin es nicht (finde ich). Vor dem 11:51-Uhr-ICE und dem 12-Uhr-Intercity Richtung Norden bilden sich schon die berüchtigten Trauben an den Türen, auch der bereits bereitgestellte Freitags-Entlastungs-Intercity um 12:14 Uhr nach Berlin scheint komplett ausreserviert zu sein. Fast, so scheint es, wolle das Volk und alle anderen Volkers nun nachholen, was ihnen die vergangenen Jahre im Zeichen des Kronen-Virus versagt blieb.

Auf Gleis 6 steht ein kurzer Doppelstock-Intercity, der weder nach Singen noch nach Karlsruhe fährt. „Emden Hbf“ heißt sein Ziel. Richtig, den gibt es ja auch noch, ebenfalls nur freitags. Schnell eingestiegen, denn um 12:08 Uhr soll er bereits abfahren. Tatsächlich ist hier noch mächtig Platz. Ausnahmsweise nehme ich im Oberstock auf der rechten Seite Platz. Sonst ist links immer die präferierte Fahrtrichtung, denn dort sieht man auch, was so alles entgegen kommt. Aber falls ich es doch länger als nur bis Mainz in diesem weiß angemalten Regionalexpress aushalte, der nun mit verhaltenen 160 km/h über die Schnellfahrstrecke nach Mannheim „braust“, wäre dies die richtige Blickseite im Rheintal. Außer, wir werden mal wieder rechtsrheinisch umgleitet, aber daran denke ich jetzt noch nicht.

Kurz: ich halte es bis Duisburg in dem Dosto-IC aus, also doch gut vier Stunden. In Mannheim wird der Zug etwas voller, aber nie unangenehm voll. Das Gewackel nervt zwar irgendwann, doch der Blick aus den Panoramafenstern der ersten Etage auf das Mittelrheintal ist schon grandios. Und auch das Gestühl ist hinternfreundlicher als etwa im ICE4, der ansonsten das Standardfahrzeug auf der „schnellen Strecke“ über den Westerwald zwischen Ba-Wü und NRW darstellt. In Duisburg niste ich mich bahnhofsnah ein und rufe ich Malte an, ob er vielleicht heute noch Lust auf ein spontanes Treffen hat. Er weilt aber über das Wochenende in Bremen bei den Schwiegereltern. O.k., ein anderes Mal also. Ich lasse mich noch ein wenig durch die Stadt treiben, schaue mal in der Nachbarstadt im Gasometer-Einkaufszentrum Oberhausen vorbei und treffe abends genau rechtzeitig zum Sonnenuntergang bei „Tiger & Turtle“ ein, eine der wohl bekanntesten und sogar begehbaren Installationen auf einer Abraumhalde des Ruhrgebiets. Vor lauter Freude über die Lichtstimmung vergesse ich, ein Foto zu machen. So muss dieses Bild von 2020 herhalten.
Hoch über Duisburg: Tiger & Schildkröte.



Tag 2:
Für den Sonnabend (oder: Samstag) habe ich noch kein Programm und schreite nach dem Frühstück erst einmal zum Hauptbahnhof, so für Inspirationen oder küssende Reise-Musen. In der Empfangshalle des Hauptbahnhofes ist ein Intercity nach Emden Außenhafen angeschlagen. Es scheint heute sonnig zu werden, Nordsee geht immer, also spontan mal eingestiegen. Es ist natürlich wieder ein Doppelstock-Intercity. Die Dinger vermehren sich inzwischen in ungesunden Mengen. Zunächst fahre ich nur bis Emden Hauptbahnhof. Von dort aus ist in etwa 10 min Fußweg die gute Stube der Stadt um den Stadthafen „Delft“ erreicht. Maritime Atmosphäre umfängt mich, statt Taubenkacke klebt hier Möwenschiss auf dem Pflaster.
Emden, am Delft (Handy-Foto).


Backstein, Schiffe, norddeutscher Slang und an der Straßenecke das „Otto-Hus“, ein Museum des Komikers… Eine sympathische Stadt.
Emden: Otto und seine schwulen Schlümpfe.


Dann wandere ich zum Außenhafen raus, immer parallel zur Eisenbahnstrecke. Das Gleis dieser Stichstrecke sieht eher aus wie ein Industriegleis, wie es entlang von Hafenanlagen, Bootswerften und Lagerhallen verläuft. Selbst Intercity-Züge, die den Anschluss zu den Borkum-Fähren herstellen, müssen an den vielen unbeschranken Bahnübergängen kräftig pfeifen.
Anschlussbahn zum Schrottverwerter? Nein, die KBS 396 Emden Hbf - Emden Außenhafen mit Intercity-Verkehr.




Als ich nach etwa 3 Kilometern am Außenhafen ankomme, ist die Fähre nach Borkum offenbar gerade weg. So herrscht zwischen Deich, Dollart, Bahnhof und Anleger entspannte Ruhe.
Hoi, a Schiff? Nein, Schiff ahoi! Am Horizont das holländische Ufer. Tot ziens!


Emden Außenhafen. Wo Urlaube beginnen. Oder enden.


Eine ältere Frau, nach eigenen Angaben aus Hannover, textet mich als einzig verfügbares Opfer im Hafenbereich mit ihrer Lebensgeschichte zu. Sie sei angeblich obdachlos und offenbart im weiteren Gesprächsverlauf ein ziemlich schräges Weltbild (bei dem, was sie erzählt, würde ich sie auch nicht als Mieterin haben wollen...). Später wird im Fährrestaurant ein gepflegter Fisch bzw. ein Krabbenbrot mit Spiegelei degustiert. Die Sonne scheint immer noch, es ist angenehm warm, vor mir steht ein leckeres Essen… Es könnte mir sicherlich schlechter gehen als jetzt!
Frischer Fisch vom Schiff zum Tisch! Nein, gelogen: es sind Krabbenkrabbenkrabben.


Dann rufe ich Claus-Peter in Norddeich an. Er ist dort Eisenbahner und so etwas wie das Mädchen für alles in der dortigen Einsatzstelle. Von Austausch eines defekten Türgriffes über die Erstellung von Rangierplänen verspäteter ICEs bis zur Bereitstellung von Zügen auf den Molen-Bahnhof: Claus-Peter und seine Kollegen schmeißen den Laden! Ob die hohen Herren in den fernen Konzernzentralen wissen, was diese Außenstandorte im Netz so alles für einen flüssigen Bahnverkehr leisten? Also, ja, er hat Dienst, ich soll doch mal hochkommen.

Also fahre ich am frühen Abend nach Norddeich, wo der Prellbock quasi direkt vor der Kaimauer steht. Ein „Moin“ sagt bekanntlich mehr als 1.000 Worte, und schon sind wir ordentlich am Klönen. Es gibt viiiel zu erzählen! Nebenbei wird ein ICE im Abstellbahnhof für die Durchfahrt des nächsten RE fotogerecht abgestellt. Und: endlich wieder "richtig" am Meer!
Der integrierte Konzern.


Um 18 Uhr hat Claus-Peter Feierabend. Dann sollte ich mich vielleicht einmal langsam um eine Unterkunft bemühen. Tatsächlich finde ich zu einem fairen Preis in der „Pension am Hafen“ ein kleines Einzelzimmer. Im hereinbrechenden Abend wandere ich später noch einmal auf die westliche Deichmauer hinaus. Aus einem völlig klaren Himmel versinkt im Nordwesten gerade die Sonne im Zeitlupentempo im Wattenmeer, ohne vorher in einer Wolkenbank wegzumilchen. Eine fast festliche Stimmung herrscht bei uns, die dieses Schauspiel vom Ufer aus schweigend genießen! Fast möchten wir applaudieren, als auch der oberste Rand der Leuchtmurmel hinter dem Horizont verschwindet. Ach, ist das schön!
Ganz großes Kino! Sonnenuntergang bis zur letzten Sekunde.


Dann falle ich nach dem Tag mit viel frischer Luft schnell in einen gesunden Schlaf.


Tag 3:
Der Sonntag beginnt entspannt. Beim Frühstück in der Pension genieße ich einen der tagtäglich seltener werdenden Momente, einmal zu den jüngsten Gästen im Saal zu gehören. Dann schaue ich noch einmal bei Claus-Peter vorbei, der an diesem Sonntag bereits die nächste 12-Stunden-Schicht fährt. Zum Abschluss machen wir noch mit einem anderen Hobbykollegen, dessen schon länger bekannter Namen nun ein Gesicht bekommt, ein Bild eines ausfahrenden RE. Dazu bewegen wir uns ein Stück Richtung Norden (was hier allerdings im Süden liegt) an die Strecke raus.
Nördlich von Norden. Bank und Regional-Express. So richtig ist der Frühling hier noch nicht angekommen.


Anschließend fahre ich relativ unspektakulär einmal die gesamte Emslandstrecke über Norden nach Süden, passiere die bei Lathen in der Ferne noch erkennbare Transrapid-Versuchsstrecke oder das Kernkraftwerk Lingen und bewege mich schließlich unweigerlich auf das Ruhrgebiet zu, bevor sich vor Münster die Frage stellt: Wie weiter? Soll ich von hier den ICE via Köln nach Süden anstreben? Hm, sonntags sicher recht voll. Ich habe aber Zeit. Also probiere ich den Doppelstock-Intercity auf der neuen IC-Linie über Hamm - Unna - Siegen - Wetzlar nach Frankfurt am Main aus, durch die Täler von Lenne und etwas Sieg, Dill und etwas Lahn. Das dauert zwar eine gute Stunde länger als durch/über den Westerwald. Aber die Landschaft ist um Längen interessanter, der Zug nicht so voll, und ich habe ausreichend Muße zum Schauen und Lesen. Die Linie ist so neu, dass noch nicht einmal die interaktive Streckenkarte sie kennt.
Fahrt ins Nichts! Irgendwo da wohnen die Dilldappen. Muss man jetzt Angst bekommen?


An der Endstation verlasse ich nach mehreren Stunden des sanftes Geschaukels den Doppelstock-Intercity. Irgendwann reicht es dann auch mit der Fahrt in diesen zwar recht edel daher kommenden und vergleichsweise bequemen Zügen, die am Ende aber doch nur gepimpte Regionalfahrzeuge sind und bekanntlich gerne unterwegs einmal unmotiviert den Geist aufgeben (oder gar nicht erst losfahren). Wir halten fest: Die Fahrt zwischen Rhein/Ruhr und Rhein/Main dauert über Siegen zwar ´n Ticken länger. Dafür bekommt man auch am Sonntagabend rezeptfrei einen Sitzplatz mit freier 4-er-Sitzgruppe, und die vor den Fenstern präsentierte Landschaft betrachtet sich aus dem Oberstock eines moderat besetzten Doppelstockwagens doch deutlich angenehmer als die Tunnel von innen oder die Lärmschutzwände entlang der Rennbahn Köln – Frankfurt am Main.

Mit diesen Gedanken werde ich später – Hallowach! – aus meiner doppelstöckigen Wohlfühloase in den brodelnden Frankfurter Hauptbahnhof gekippt. Hier haben es plötzlich irgendwie alle Menschen eilig, es ist laut, hektisch, voll. Schon der olle Schiller schrieb "alles rennet, rettet, flüchtet", dabei gab es damals noch nicht einmal eine Eisenbahn. Beim Blick auf die Abfahrtstafel, auf der viele weiße Lauftexte mit Verspätungsangaben hinter den einzelnen Zügen durchwandern, wird schnell klar: heute ist wieder ein so Tag, an dem man nicht mehr in den Fahrplan schaut, sondern am Bahnhof guckt, welcher Zug denn gerade als nächstes in die richtige Richtung (hier: Stuttgart) im Angebot ist. Frei nach Joseph Beuys: Intuition statt Kochbuch. Für mich ist dieses Angebot der ICE 579 aus Hamburg, ein ICE 4, der mit vergleichsweise moderater Verspätung angekündigt ist. Abteile hat der sowieso nicht, aber Hoffnung auf einen kommoden Sitzplatz im Großraumwagen mache ich mir beim Blick auf die Menschentrauben vor den Türen des gerade einfahrenden Zuges auch nicht wirklich. Tatsächlich sind die Wagen schon ganz gut mit Tendenz zum sehr gut besetzt. Sonntagabend eben. Unter der Woche steigen hier, kurz nach 17 Uhr ab Mainhattan, die Fernpendler mit ihren Laptoptaschen und der Bahncard 100 im Anzug in diesen Zug. Heute, sonntags, ist das Publikum ein gänzlich anderes. Deutlich schwerer bepackt, insgesamt erkennbar weniger routiniert im Umgang mit der Eisenbahn und gerne in Gruppen oder Familien unterwegs.

Ziemlich weit vorne im Zug, außerhalb der Halle, entdecke ich dann überraschend doch eine völlig freie 4-er-Sitzguppe mit Tisch. Keine Reservierungsanzeige (hoffentlich nicht nur wieder ausgefallen), auf den Sitzen auch keine abgelegten Jacken von Fahrgästen, die kurz zum Rauchen auf den Bahnsteig getreten sind. Scheint tatsächlich alles noch frei zu sein. Also am Fensterplatz hingesetzt. Dann werden auch die beiden Plätze gegenüber von einem südländischen Damen-Paar okkupiert. Bald fahren wir los. So wirklich voll wird der Zug aber erst am Flughafen. Ob da vorher ein Zug Richtung Baden-Württemberg ausgefallen ist, keine Ahnung. Die Packdichte im Mittelgang steigt jedenfalls proportional mit der Lautstärke im Wagen, das Geschiebe wird intensiver. Ich klinke mich geistig aus dem Schauspiel aus, habe ja meinen Platz. Spannend ist es ja immer dann, wenn die Einsteiger-Wellen von beiden Wagenenden in der Mitte des vollen Waggons aufeinander prallen und aneinander vorbei wollen, obwohl der jeweils andere Wagenteil genauso voll ist... So merke ich auch erst gar nicht, als ich von einer Soldatin angesprochen werde, ob sie auf dem Sitz neben mir Platz nehmen dürfe. Jaja, natürlich! Seit die Bundeswehr der DB für Soldaten in Uniform das Zugfahren freigekauft hat, ist tatsächlich wieder mehr - oder besser: überhaupt wieder - olivgrün in den Zügen zu sehen. Irgendwie bekommt Femy (von der ich aber erst viele Wochen später erfahre, dass sie so heißt bzw. so genannt wird) auch ihr Großgepäck verstaut. Eine austauschbare Situation also, so scheint es, wie man sie als Zugreisender unzählige Male erlebt: Zustieg, flüchtige Begegnungen mit einem Minimum an Kommunikation, bestenfalls „Hallo“, "ist hier noch frei?" und „tschüss“, ein paar zufällig gemeinsam zurück gelegte Kilometer, Ausstieg. Und schon wieder vergessen. Irgendwie kommen wir aber recht schnell in ein Gespräch. Erst – natürlich – über die Eisenbahn, den vollen Zug und wo wir herkommen und hinwollen. Doch dann landen wir bald bei Themen, zu denen man sich normalerweise eher nicht nach fünf Minuten mit fremden Sitznachbarn in einem bumsvollen Großraumwagen unterhält. Noch vor Groß-Gerau sind wir bei Putin mit seinem – damals noch recht jungen – Ukraine-Krieg und was passieren würde, wenn dieser plötzlich auf ein Nato-Land übergreift. Was würde die Bundeswehr tun? Was tun müssen? Wäre es unter diesen Aspekten klug, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu verhängen? Was kann man glauben von dem, was erzählt und geschrieben wird? Und: wie geht man als Soldatin mit dieser Situation um, wie „nah“ fühlt sich das an, was da ein gar nicht so langes Stück weiter östlich gerade passiert? Wir landen bei Kopfbedeckungen der Bundeswehr zu bestimmten Jahreszeiten, dem politische Stellenwert der Armee und ob es wohl diesen oder jenen Standort noch gibt (ja, ich war auch mal bei dem Verein…). Selten habe ich in einem Zug, zumal in der Anonymität eines Großraumwagens, ein solch intensives und sofort so vertrautensvoll-offenes Gespräch erlebt, mit einer völlig fremden Person. So werden wir nach einer gefühlt nur 15 Minuten langen halben Stunde ziemlich abrupt aus unserer Konversation gerissen, als sich Mannheim ankündigt. Femy muss hier auf den Zug zu ihrer Kaserne in den Tiefen in der Pfalz umsteigen. Nur ein einsamer Handschuh bleibt an ihrem Platz zurück. Nein, auch bis Stuttgart oder München wäre uns nicht langweilig geworden. Wo sonst, wenn nicht in der Eisenbahn, erlebt man so eine Begegnung?

Der Platz neben mir bleibt auf den letzten Kilometern bis Stuttgart frei, einzig der Handschuh ist weiter mein Sitznachbar. Draußen geht langsam die Sonne unter und ich werde langsam müde, döse weg, die Gedanken kreisen um dieses und jenes. Auch um absolute Belanglosigkeiten, zum Beispiel um diesen blöden Handschuh neben mir. Überlegung: Wenn der nun wirklich der Soldatin von eben gehört – hm, könnte sie ihn zurück bekommen und wie? Ich weiß ja eigentlich nichts von ihr, außer den auf der Uniform angebrachten Nachnamen, ihren Dienstgrad (Schulterklappe!) und den Zielort ihrer Reise. Ob man daraus etwas ermitteln kann? Der kleine Detektiv in mir erwacht… Jedenfalls gebe ich ein paar Tage später einen Brief in die Post, der an eine wohl ziemlich unvollständige Anschrift zu einer Kaserne in Rheinland-Pfalz adressiert ist und der einen Handschuh in sich trägt. Die 1,55 Euro Porto ist mir die Neugier wert, ob der wohl sein Ziel erreicht oder nach einem Monat als "unzustellbar" wieder zu mir zurückkommt.
Ankunft mit Handschuh, fast pünktlich! Wo der Zug herkommt, erschließt sich in Stuttgart nur dem Kundigen deutscher Kfz-Kennzeichen. Heißer Tipp: schreibt doch einfach "Hamburg" da oben rein, dann verstehen es auch Charles, Valérie, Urs oder Ludmilla.


So gehen die Tage, Wochen ins Land, weitere Reisen folgen. Als ich den Vorfall fast schon wieder vergessen habe, erhalte ich auf einmal eine Mail einer mir völlig unbekannten Femy F. aus... nein, nicht aus Rheinland-Pfalz, sondern aus Norddeutschland. "Fundsache" ist die Mail überschrieben, und: Danke für den Brief. Brief? Ach ja... Der ist also tatsächlich angekommen! In der Pfalz war sie bei dessen Eintreffen zwar schon gar nicht mehr stationiert, doch habe man ihr den Brief an ihren neuen Standort nachgesendet. Hut (oder: Stahlhelm) ab, die Bundeswehr arbeitet gründlich! Nun wisst ihr auch, woher ich den Namen der damals im Zug getroffenen Soldatin kenne. Ab & zu schreiben wir uns noch immer. Und das, obwohl ihr der Handschuh gar nicht gehörte...


Tag 4:
„Dachstein“ heißt der Eurocity, der für mich eine gern genommene Verbindung aus meiner württembergischen Wahlheimat nach… naja, nicht ganz bis zum Dachstein, aber doch zumindest bis Oberbayern herstellt. Dies ist dann der Fall, wenn ich jenseits des Stuttgarter Kesselrandes mal wieder richtige Berge sehen und statt Spätzle Knödel essen will. Die Abfahrtszeit in Stuttgart um kurz vor 8 Uhr verstößt aufsteh-technisch auch nicht mehr völlig gegen die UN-Menschenrechtskonvention, und so sitze ich nun mit einem fürchterlich schwäbelnden Rentner, der zum Wandern nach Vorarlberg fahren möchte (hoffentlich versteht man ihn dort), in einem Abteil des Bvmz-Wagens und lasse mich die Scheißlinger Geige hinauf schieben. Es folgen Ulm (der Rentner steigt aus - Ade!), Günzburg, Augsburg, kein Halt in München-Pasing, dann München Hauptbahnhof - Endstation. Es sind zwischen München und Salzburg mal wieder irgendwo Bauarbeiten, und zur Grundentlastung der verbliebenen Schienen wird die EC-Linie Deutschland - Österreich zwischen München und Salzburg geschlachtet. Also raus und rüber zum Holzkirchner Flügelbahnhof, bahnamtlich „München Hauptbahnhof Gleis 1 - 5“. Der Weg dorthin erscheint mir inzwischen gar nicht mehr so lang, nachdem die DB die Umsteigewege im Stuttgarter Hauptbahnhof entgegen aller Zusagen jüngst auf ein Vielfaches dieser Strecke verlängert hat.
Nase putzen.


Zum Holzkirchner Flügelbahnhof läuft man über den Bahnsteig von Gleis 6. Da kommt neben mir auf Gleis 6 gerade ein Zug aus Österreich an, aus deren Türen nun gefühlt Tausend Menschen im 90-Grad-Winkel gleichzeitig von rechts auf meinen Bahnsteig quellen. Es beginnt ein Slalomlauf und es ist jedes Mal wieder ein Phänomen, wie Menschen da auch im größten Gewühl immer ohne Kollisionen aneinander vorbei kommen. Oder: fast immer. Offenbar hatte der Zug aus Österreich Verspätung, denn einige Umsteiger bekommen nun das große Rennen - und die kommen mir jetzt frontal entgegen. Das geht so lange gut, bis eine quasi in Ekstase umsteigende, wohlgenährte Dame vom Typ "Mutti" mit Großgepäck auf mich zueilt. Die schaut nicht rechts, die schaut nicht links, die schaut eigentlich gar nicht und hat wohl nur noch ihren Anschlusszug im Kopf. Was tun? Direkt rechts von mir steht der Zug, links fluten mir die Umsteiger wie ein träger Fluss Richtung Querbahnsteig entgegen, und von vorne… Ein paar Sekundenbruchteile habe ich Zeit, mich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden: entweder beherzt in den Spalt zwischen Bahnsteig und Zug springen oder es auf eine Kollision ankommen zu lassen. Ich entscheide mich für letzteres, da auch Mutti keinerlei Anstalten macht, ihrerseits auszuweichen. Jedenfalls gibt es einen Schlag am linken Arm, Mutti kommt ins Staucheln, fällt aber nicht, verliert jedoch eine große, mit Klamotten gefüllte Papiertragetasche. Ihr Lauf ist jetzt erstmal gebremst, als sie aus ihrer Trance in die Realität zurück geholt wird, sich zunächst um ihr eigenes Gleichgewicht bemühen muss und dann das eine oder andere Kleid vom Bahnsteig auflesen muss. Und nein, ich helfe ihr nicht dabei, auch wenn eine andere ältere „Dame“ sich bemüßigt fühlt, mir ein „Unverschämtheit!“ hinterherzurufen. Aber, hey, ich kann mich doch nicht in Luft auflösen?

Ob das Malheur der Mutti ihren Anschluss gekostet hat werde ich nie erfahren, denn wenige Minuten später sitze ich in einem kommod besetzten Merdian-Flirt, der in nicht ganz so rascher Fahrt sonst wie der „Dachstein“ die wie an einer Perlenkette aufgereihten Orte abklappert, die nach Urlaub klingen. Prien, Traunstein, Freilassing… Der schönste Moment ist für mich immer, wenn hinter Grafing die Berge von Kilometer zu Kilometer auf einmal wirklich so weit in die Nähe rücken, dass sich das Gefühl einstellt, bald wirklich da zu sein.

Ich fahre bis Traunstein, denn von hier zweigen gleich drei Nebenbahnen von der Oberbayern-Transversale ab. Die Wahl fällt spontan auf die kurze Stichbahn in nördliche Richtung, nach Waging. Ja, weg von den Bergen. Eigentlich habe ich hier auf eine der größten mobilen Behindertentoiletten der Welt gehofft, von denen die Mühldorfer DB-Tochter seit einiger Zeit einige in ihrem Fahrzeugportfolio führt. Dabei handelt es sich um kleine, einteilige Dieseltriebwagen der Baureihe 640, deren Innenraum zu einem großen Teil mit einem Mehrzweckbereich für Fahrräder und einer unglaublich voluminösen Toilette eingenommen wird, in die man sogar mit Elektro-Rollstühlen oder vielleicht auch ganzen Sattelschleppern einfahren kann. Derart verbaut verfügt das Gefährt dann auch nicht über mehr Sitzplätze als ein gewöhnlicher Überland-Linienbus. Konkret: 52 an der Zahl. Leider wartet am hintersten Bahnsteig nur ein 628 auf die Fahrt nach Waging, wie er hier seit ungefähr 30 Jahren seine Bahnen zieht. Ich steige aber trotzdem ein und beschließe, in der großen 180°-Kurve bei Unteraschau mal ein wenig den Sommertag zu genießen. Eine gute Viertelstunde später verlasse ich den Triebfix als einziger Aussteiger an dem winzigen Haltepunkt.
Da fährt er hin... Unteraschau bei gefühlt 57°C.


Während sich der Zug brummend nach Waging weiter bewegt und zwei Minuten später noch einmal am gegenüber liegenden Talhang auftaucht, frage ich mich, ob das mit dem Sommer-genießen hier & heute wirklich so eine kluge Idee war oder ich nicht doch besser bei Prien zum Baden in den Chiemsee gesprungen wäre? Ich habe mir offenbar den heißesten Tag des Jahres ausgesucht, denn jeder Schritt in der Sonne führt sofort zu Schweißausbrüchen.
Schön ist es hier ja, aber heute eindeutig zu heiß!




Den ganzen Tag unter einem Baum im Schatten zu hocken habe aber ich auch keine Lust. Ein wenig wandere ich durch die Feldmark. Dann fahre ich schon zwei Stunden später wieder nach Traunstein zurück und von dort auf die Stichbahn in die andere Richtung, nach Ruhpolding. Am Fuße der Alpen ist es vielleicht doch ein paar Grad angenehmer als auf den Feldern des Vorlandes am Rande des Chiemgaus.
Verkehrsdrehscheibe in der Metropolregion Hufschlag-Bibelöd.


Das nach Ruhpolding eingesetzte Fahrzeug ist ein Bonsai-Quietschie der Baureihe 426, nur unwesentlich größer als der 640, fährt aber elektrisch und hat natürlich auch eine fette Rollstuhltoilette an Bord. Anderswo fahren S-Bahnen fast zwei Stunden lang ohne Lokus durch die Gegend, und hier, auf diesen je 13 km langen Bimmelbahnen, gibt es dann mehr Klo als Sitzplätze… Ganz bis zum Endbahnhof bzw. Endhaltepunkt (der weltbekannte Wintersport-Ort Ruhpolding hat nicht eine einzige Weiche mehr) fahre ich nicht, sondern steige - nach erfolgreich vollzogener Vormeldung beim Schaffner, der hier auch die Fahrkarten verkauft - am Bedarfshalt Bibelöd aus. Der Name klingt öder als er wirklich ist, denn in der unmittelbar am Haltepunkt vorbei fließenden Traun lassen sich wunderbar die dampfenden Füße ins kalte Wasser strecken. Aaaah! Tut das gut! Hoffentlich bricht weiter flussabwärts jetzt nicht die Trinkwasserversorgung zusammen. Danach laufe ich ein Stück talaufwärts, schlage einen Haken über einen Berghang und lande nach einigen Kilometern schließlich in Ruhpolding downtown.
Hohe Berge (für mich jedenfalls).


Ruhpolding Hauptbahnhofhaltepunkt.


Hier tobt der Touri, und ich tobe ein wenig mit. Wobei, „toben“ ist da ein wenig übertrieben. Mein Weg führt mich zunächst ins „Maibaumstüberl“, eine Gaststätte an der kleinen Hauptstraße im Herzen des Ortes. Ein Sonnenschirm spendet den kühlenden Schatten, die Bedienung ist entspannt-freundlich und auch einem kleinen Smalltalk aufgeschlossen, von meinem Platz aus kann ich die Passanten auf der Hauptstraßen beobachten, und kurze Zeit später kommt auch schon mein… ich weiß gar nicht mehr, wie es heißt, aber es ist unglaublich lecker und der Kartoffelsalat bestimmt nicht aus dem Regal jenes Ladens, wo es Aldi guten Sachen gibt. Ach, geht und schmeckt es mir gut!
Hmmm! Das habe ich mir aber auch ehrlich erwandert.


Gesättigt und in dem Zustand befindlich, für den es kein Wort gibt (= keinen Durst mehr zu haben) mache ich danach in der Agglomeration Ruhpolding/Bibelöd noch ein paar Bilder von Bahnen und Bergen und steige dann in einen zufällig vorbei kommenden Bahnbus hinunter nach Traunstein. Inzwischen ist es am Himmel absolut klar geworden, einzig über den Gipfeln kreisen noch ein paar kleine Wölkchen. Das sich hinter der Rückscheibe meines Kraftomnibusses auftuende, wunderschöne Bergpanorama veranlasst mich dazu, kurz vor Traunstein doch noch einmal spontan auszusteigen und durch den temperaturmäßig inzwischen deutlich erträglicheren Abend zu laufen.
Der Berg ruft, und ich folge dem Ruf. Raus aus dem Bus, rein in den Sommerabend im Trauntal, nun bei milderen Temperaturen.


Das werden am Ende doch noch einmal etwa 5 Kilometer, dann erreiche ich den Bedarfshaltepunkt Traundorf und verlasse - nun wirklich - dieses hübsche Fleckchen Erde. Zur Verkürzung der Wartezeit fahre ich noch einmal nach Bibelöd und zurück und dann mit dem 20-Uhr-Zug gen Traunstein.
Mit der Komma-Setzung haben sie es in Bibelöd nicht so, dafür gibt´s ein Deppen-Leerzeichen vor dem Ausrufezeichen.


Zum Abschluss gibt es in Traunstein doch noch eine mobile Behindertentoilette mit etwas Zug drumherum, erkennbar hinter dem Fenster mit dem Fahrradsymbol.


Dass die Fahrt zurück nach Stuttgart heute ein wenig länger dauern würde war zwar abzusehen, denn es findet ja, wie dargestellt, nur eingeschränkter Zugverkehr zwischen Soizbuag und Minga statt. Statt eines internationalen Fernverkehrszuges ist bis München also wieder Meridian angesagt. Ist nicht schlimm, dauert aber länger - und dank einer 45-minütigen Verspätung auch so viel mehr länger, dass in München der letzte Zug nach Stuttgart nie im Leben zu erreichen wäre. Was also tun? Bis München weiter fahren und dann schauen, ob der Nachtzug nach Hamburg oder Köln noch freie Schlaf- oder Liegeplätze hat? Hierbleiben? Übermorgen Nachmittag will ich jedenfalls in Magdeburg sein. Ich fahre erst einmal bis Rosenheim weiter. Dort ist im Bahnhof der Infoschalter der DB sogar noch besetzt. Er bescheinigt mir die Verspätung. Dann beziehe ich das bahnhofsnahe B&B-Hotel, welches mir später auch anstandslos von der Eisenbahn erstattet wird. Und zum guten Ausklang des Tages bekomme ich sogar ein Zimmer in den oberen Etagen mit Bahnhofsblick!


Tag 5:
„Out of Rosenheim“ hieß einst ein Film über eine deutsche Touristin, die unfreiwillig in einem verlassenen Nest der kalifornischen Wüste strandete. Ich bin unfreiwillig inside Rosenheim gestrandet. War zwar nicht geplant, hat sich aber so ergeben. Egal. Die potenzielle Planlosigkeit - einzig der übermorgige Nachmittag in Magdeburg steht als nächster Fixpunkt in meinem persönlichen Fahrplan - veranlasst mich dazu, erst einmal auszuschlafen. Schließlich wartet heute kein „Dachstein“ auf mich, den es irgendwo zu erreichen gilt. Vergleichsweise unspektakulär verläuft somit auch der Vormittag. Ich stelle fest, dass in Rosenheim das Wasser offenbar bergauf zu fließen vermag - auf der Straße vor dem Haus sind einige Gullydeckel höher als die Straßenfahrbahn.
In Rosenheim hüpft das Regenwasser in den Gully. Oder einfach noch nicht fertig?


Beim Einfahren des Meridian nach München erkenne ich, wieso der Engländer von „to catch a train“ spricht, wenn er einen Zug erreichen resp. fangen möchte.
"To catch a train" wird in Rosenheim wörtlich genommen. Schnell hinterher rennen und alle durch die letzte Tür reingequetscht!


So werde ich am späten Vormittag wieder im quirligen Münchner Hauptbahnhof angelandet. Zufällig passt das genau, um einen - vor ein paar Wochen selbst in Stuttgart mitgeplanten - Entlastungszug zum Tuttlinger South-Side-Open-Air zu beobachten, umgangssprachlich als Sauf-Side-Festival bezeichnet. Da die Kommunikations-Vorlaufzeit nur rund eine Woche betrug war ich skeptisch, ob der überhaupt genutzt wird. Als ich 10 min vor der Abfahrt durch den Zug laufe, sind die sechs Wagen jedoch schon mit fast 400 gut gelaunten und vornehmlich jungen Leuten besetzt. Im Halbgepäckwagen stapeln sich Zelte und dicke Rucksäcke für die Survival-Veranstaltung zwischen Heavy Matsch und Heavy Metal. So kann ich den Zug beruhigt wieder verlassen, zumal es in Augburg und Ulm noch weitere Zusteiger geben würde.
Vor einigen Wochen selbst mitgeplant, nun live und in Farbe auf dem Gleis: Sauf... äh, South-Side-Festival-Sonderzug München - Ulm - Messkirch mit rund 400 Paxen an Bord.


Einen Moment überlege ich, einfach noch ein wenig in München zu bleiben. Oder soll ich doch nochmal kurz nach Hause fahren? Ist irgendwie die falsche Richtung. Während ich die verschiedenen Alternativen abwäge und auf der Abfahrtstafel das Zugangebot sondiere, spricht mich ein südländisch aussehender junger Mann mit Koffer an und fragt vorsichtig auf englisch, ob ich wüsste, wo man eine Fahrkarte nach Venlo (Niederlande) bekomme. Ich könnte ihn zum Fahrkartenschalter schicken, aber dort wird im Vorfeld des langen Fronleichnams-Wochenende erfahrungsgemäß mit längeren Warteschlangen zu rechnen sein. So zotteln wir gemeinsam zum nächsten Automaten am Querbahnsteig und schießen ihm mit ein wenig Tricksen sogar noch einen kurzfristig erhältlichen Sparpreis bis Düsseldorf. Der ist rund 40 Euro billiger als eine durchgehende Fahrkarte nach Venlo. Ich hoffe, dem jungen Mann doch eindeutig zu verstehen gegeben zu haben (kann man das so sagen?), dass er in Düsseldorf noch das letzte Stück rüber nach Venlo lösen müsse. Das ist dann deutlich günstiger als 40 Euro, aber wenn er es nicht macht, kann es mit 60 Euronen deutlich teurer werden. Wir trennen uns wie gute Bekannte, er fährt nach Düsseldorf und ich… steige in den gerade bereit gestellten ICE 1 Richtung Berlin. Das ist ja immerhin schon einmal die grobe Richtung Magdeburg. Der Mensch muss Ziele haben.

Der Zug ist überraschend überschaubar besetzt - bis Erfurt habe ich ein eigenes Abteil. Auch die Zugbegleiterin ist grundentspannt. Irgendwie kommen wir ins Plaudern. Sie erzählt interessante Geschichten aus ihrem aktuellen Alltag, etwa wenn es sich 9-Euro-Jünger in ihrem ICE bequem machen. Ja, man merkt recht schnell, wer da wirklich den ICE nicht von einer Regionalbahn unterscheiden kann und wer sie gezielt hinters Licht führen will. Aber, meint sie, das Verhalten einiger 1.-Klasse-Passagiere sei da mitunter viel schlimmer. Die meinen, sie hätten mit ihrem Erstklass-Sparpreis mindestens die ganze Deutsche Bahn AG gekauft und benähmen sich auch so gegenüber ihr als Zugpersonal. Aus der Ruhe bringen lassen darf man sich nicht, persönlich nehmen darf man manch eine Bemerkung auch nicht, aber am Ende muss auch für den arroganten Schnösel klar erkennbar sein, wer Herr bzw. Frau im Zug ist. Ruhig bleiben und Kante zeigen - eigentlich gar keine schlechte Strategie beim Weg durch die Untiefen des Miteinanders.
Stars vor dem Start beim Zwischenhalt in Nürnberg.


Von Erfurt aus, so mein aktueller Plan, würde ich den Nachmittag einmal auf Wal(l)fahrt gehen und den 641 zwischen Nordhausen und Erfurt nachstellen. Die Gegend südlich der Goldenen Aue ist aufregend unaufregend, aber nicht langweilig. Außerdem sieht es an einigen Orten immer noch nach typisch DDR aus, und dabei machen auch einige Bahnhöfe keine Ausnahme. Würden da die verkehrsroten DB-Triebzüge nicht sein, so sieht es zumindest auf den ersten Blick noch vielfach nach guter alter Reichsbahnzeit aus. Auf den zweiten Blick erst entdeckt man die neuen blauen Bahnhofsschilder, und der Fahrdienstleiter darf auch schon lange keine Fahrkarten mehr verkaufen. Hurra, Bahnreform! Ohne in den Fahrplan zu schauen verlasse ich meinen Desiro-Triebzug im kleinen Bahnhof von Kühnhausen. Das war insofern kühn, alsdass ich von hier erst in zwei Stunden nach Norden weiterkomme. Kühnhausen ist zwar sogar Abzweigbahnhof der Strecken von Erfurt nach Nordhausen und nach Leinefelde, aber die meisten Züge fahren hier offenbar durch. Und die, die in der nächsten Zeit vor meinem Kameraauge vorbeirollen, sind alles, nur keine Wale der Baureihe 641. Na, immerhin scheint die Sonne.
Einfahrt eines Wackelzuges nach Kühnhausen. Muss man nicht kennen. Ich habe es auch schon fast wieder vergessen. Was dieser runde Bepper auf der Frontscheibe wohl schon wieder für eine neue inkompatible Software-Version bedeutet?


Ich fahre später zunächst nach Erfurt Nord zurück, um dort einen Regionalexpress nach Nordhausen zu erreichen, welcher in Kühnhausen aber nicht hält. Ich durchrolle also meinen Aufenthaltsort nochmals ohne Halt in nördliche Richtung, genieße die original Reichsbahn-Atmosphäre der folgenden Kilometer bis Sondershausen und weiter nach Nordhausen. Dort schaue ich einmal bei der schmalen Spur vorbei und begebe mich auf Unterkunftsuche.
Noch ziemlich nach Deutscher Reichsbahn sieht es im Hinterhof des Schmalspurbahnhofes zu Nordhausen aus. Nur die beiden Nachwende-Triebwagen deuten auf die Neuzeit hin.


Da war Nordhausen einst Pionier: Die Straßenbahn fährt mit zusätzlichem Dieselmotor auf den Gleisen der Harzer Schmalspurbahn aus der Stadt hinaus. Ganz rechts am Bildrand ist der DB-Normalspurbahnhof zu erkennen.


Im „Hotel Nordhausen“ bekomme ich noch ein recht günstiges Zimmer.
Den Rest des Abends bummele ich durch die Altstadt, die auf einem kleinen Hügel liegt, und schaue mir die zum Teil auch überregional bekannten Wahrzeichen der Stadt an. Nein, der Roland ist es nicht.
Etwas verbaut sind die Straßenbahnen in Nordhausen, die mitten im Fahrgastraum noch den Dieselmotor mitführen.


Roland (links vorne an der Ecke)


Das kennt man auch dort, wo man Nordhausen nicht kennt.



Tag 6:
Aus irgendwelchen Gründen habe ich im Hotel kein Frühstück gebucht. Egal, also wird das örtliche Bäckerhandwerk unterstützt. Das Etablissement verfügt aber nur über ein, zwei Stehtische, an denen ein Schwung Bauschaffender ihr zweites Frühstück einnimmt und sich zwischen zwei Bissen lautstark über die ungerechte Bezahlung durch ihren Chef beschwert. Auf diese Form der Systemkritik habe ich am Morgen aber keine Lust. Deshalb flüchte ich mit Tee und Brötchen auf eine kleine Grünfläche, ausgesprochen idyllisch gelegen inmitten eines Parkplatzes zwischen Fressnapf, Lidl und Takko-Fashion in ihren zwischen Flensburg und Freilassing immergleichen Flachbauten. Am Sitzen-auf-der-Wiese mag aber ersichtlich sein, dass das Wetter ein sonniges ist.

Gesättigt wandere ich kurz in die Stadt zum Geld-Holen und fahre mit der Straßenbahn zum Bahnhof Nordhausen Nord der Harzer Schmalspurbahnen (HSB) weiter, der gegenüber des DB-„Hauptbahnhofes“ liegt (siehe das viertletzte Bild).
Liebe Stadtplaner: kommt raus aus euren Büros und schaut euch draußen das richtige Leben an. Dann platziert ihr die Fahrgast- Information auch nicht direkt zwischen dem Wartehäuschen und einer fetten Straßenlaterne!


Von hier aus will ich in den nächsten drei Stunden den Harz überqueren. Was sonst 26 Euro kostet und wo auch keine Bahncard 100 gilt, wird heute das 9-Euro-Ticket zum Tagespreis von 30 Cent anstandslos anerkannt. Das muss natürlich ausgenutzt werden. Zunächst wird erst einmal das 9-Euro-Ticket für den nächsten Monat im Stile einer Edmonson´schen Pappfahrkarte XXL am HSB-Schalter gekauft und dann der Zug bestiegen. Die Lok fährt leider Rauchkammer voraus - schade, denn sonst hätte man das Feuerwerk bei der Bergfahrt direkt vor sich auf der vorderen Plattform.
Die Ausfahrt steht, der Kesseldruck steigt, gleich geht es los!


Dennoch vergehen die nächsten Stunden wie im Zuge. Im gut besetzten Dampfzug steigen wir von 184 Meter (Nordhausen) auf rund 550 Meter bei Drei Annen Hohne an, um anschließend wieder auf 234 Meter über Normalnull abzusteigen (Wernigerode).
Nett!


Brockenblick durch den Führerstand.


Weniger als die sich zunehmend vor die Sonne schiebenden Wolken machen die Bäume vor dem Fenster Sorgen - oder besser: was von den Bäumen übrig geblieben ist. Auf etlichen Kilometern begleiten kahle Zahnstocher unseren Weg, teilweise sind ganze Hochebenen völlig entwaldet! Und nein, das liegt nicht an den Abgasen der Dampflok oder der unzähligen Autos auf den Straßen im Oberharz. Die Schaffnerin sagt, das sei der Borkenkäfer, kombiniert mit der Dürre dieses Sommers.
Wirklich gesund sieht das nicht aus...


Ob die Namen hier Programm sind, vielleicht für den nächsten Waldschadensbericht?


Ob sich dieser Wald einmal wieder erholt? Zum hier-Urlaub-machen lädt das jedenfalls nicht wirklich ein, auch wenn zwischendurch auch immer einmal wieder richtiger, für mich als Laie intakter Wald durchfahren wird.

Der Anschlusszug von Nordhausen nach Magdeburg ist ein 9-Euro-Ersatzzug, bestehend aus einer 218 mit drei modernisierten Silberlingen privater Verkehrsunternehmen. Er setzt den sonst auf dieser Leistung zwischen Goslar, Wernigerode und Magdeburg eingesetzten kleinen Triebwagen frei, der dann einen anderen Triebwagen in Doppeltraktion unterstützen kann.
Fotografieren - hinterherrennen - einsteigen! Stress pur in Wernigerode, und das im Urlaub! Über dem rechten Signal ist der Brocken zu erkennen.


Tatsächlich ist die Fuhre besser gefüllt als in einem Triebwagen Platz gewesen wäre. Die Schaffnerin punktet die 1. Klasse runter. So gediegen bin ich lange nicht gereist. Entweder am offenen Fenster stehend oder bequem in die Polster des Erstklass-Abteils gelümmelt vergeht die gute Stunde nach Magdeburg abermals wie im Zuge.
So lässt es sich reisen! 1.-Klasse-Abteil im Silberling.


Fenster auf - Rübe raus! Einfahrt nach Halberstadt.


Dass der Zug mächtig Verspätung aufbaut ist mir da fast egal. Einzig Tobias und Julian müssen ein wenig länger auf mich warten, denn mit ihnen bin ich in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt zu einem kurzen Treffen verabredet.
Ein Wunder: der Dom einmal ohne Baugerüst! Einfahrt nach Magdeburg.


Zufällig, so haben wir vor einiger Zeit festgestellt, sind Julian und Tobias beide an diesem Nachmittag hier, und deshalb haben wir ein Treffen verabredet und ich Magdeburg in meinen Weg nach Buxtehude eingebaut.
Willkommen! (Foto von einem späteren Besuch.)


Tobias, der hier arbeitet und die Stadt auch abseits der ausgetretenen Pfade kennt, entführt uns in ein Konditorei-Café in der Nähe des Hundertwasser-Hauses, und ja, der Tipp war wirklich gut & lecker! Auch die Bedienung begreift, dass wir wegen unserer Züge nicht sooo viel Zeit haben und hat sich bei der raschen Bewirtung ein Trinkgeld redlich verdient. Wie drei alte Herren sitzen wir auf der Terrasse eines Cafés, beobachten die Passanten und lassen den Nachmittag an uns vorüber ziehen. Es gibt ja so viel zu erzählen!
Liebevolle Details, die mit den Füßen getreten werden.


Dann trennen sich unsere Wege am Bahnhof. Julian fährt nach Berlin, Tobias begleitet mich noch bis Wolmirstedt, ich fahre in einem der wie immer blitzeblanken sachsen-anhaltischen Doppelstockwagen über Stendal, Hohenwulusch (da wollte ich schone immer einmal hin) und Salzwedel in rascher Fahrt nach Uelzen. Schon wieder Hundertwasser! Heute aber nur zum Umsteigen.

Der Metronom nach Harburg ist das totale Gegenstück zum eben genutzten DB-RE. Dass sich die Firma nicht schämt, derart verdreckte und ungepflegte Wagen auf ihre Kunden loszulassen. Bäh! Dass wir anschließend in der Baustelle bei Bad Bevensen verloren gehen und bis Harburg über eine halbe Stunde Verspätung aufbauen, passt zum Gesamtbild, auch wenn der Metronom dafür nichts kann. Am Ende lässt man uns wegen der hohen Verspätung vorzeitig in Harburg enden. Nach Hamburg möge man bitte mit der S-Bahn weiter fahren. Mir egal, ich will eh hier raus. Allerdings lässt uns die freundliche DB Netz AG ausgerechnet an jenem Bahnsteig enden, von dem aus man nicht direkt zur S-Bahn gelangt. So wälzten sich ein paar Hundert Menschen über Treppen und Gänge rauf und runter in den Tunnelbahnhof. Ein unrühmliches Ende eines sonst wunderschönen und bis Bad Bevensen auch pünktlichen Tages, der dann bei meinen Eltern in Buxtehude doch noch einen netten Abschluss findet.


Tag 7:
Zwei Tage bleibe ich im Norden, dann ruft wieder die Ferne. Ich möchte… ja, was eigentlich? So richtig vor habe ich nichts. Nachdem ich im Gästezimmer des Kellers in Buxtehude im wahrsten Wortsinne sehr tief schlief, wird zunächst gefrühstückt und der obligatorische Eintrag im Gästebuch zelebriert, dann bringt man mich dankenswerter Weise zum Bahnhof. Der nächste Zug ist eine S-Bahn. Mit der fahre ich bis Hamburg-Neugraben, steige dort in den 251er-Bus nach Finkenwerder um, wo direkter Anschluss an die Fähre der Linie 62 zu den Landungsbrücken besteht. Die 62 verkommt von einem gewöhnlichen Öffentlichen Verkehrsmittel leider zusehends zu einer einen reinen Touristen-Bespaßung, von wegen „Hafenrundfahrt zum HVV-Tarif“, gerade wie heute an einem Sonntag. Blöd für solche Spinner wie mich, die das Schiff ganz normal zum Zweck seines Daseins als ÖPNV-Verbindung nutzen möchten und dann auf dem „Bügeleisen“-Schiff nur noch Stehplätze zwischen fremden Sprachen und Dialekten finden - die meisten Seh-Leute gehen hier in Finkenwerder nicht einmal von Bord, sondern fahren ohne aufzustehen gleich wieder zurück.

Ich fahre zunächst nur eine Station weiter bis zum Bubendey-Ufer. Das ist eine Oase der Ruhe am Rande des Hafens, ideal zum Schiffe-gucken und einfach nur an die Elbe zu setzen. Gegenüber die feinen Kapitänsvillen von Blankenese, schräg hinter mir die Containerberge des Eurogates, und vor mir einfach nur die Elbe, das Tor zur Welt. Hier lässt es sich tatsächlich, mitten zwischen Hafen und Stadt, stundenlang aushalten, ohne einen anderen Menschen zu treffen. Mal sehen, wann auch dieses Idyll vom unersättlichen Hafen verschlungen wird. So genieße ich einfach nur das maritime Fluidum meiner langjährigen Heimatstadt. Zwar nicht stundenlang, aber doch mal ´n büschn. Ein Fischkopf braucht so etwas ab und zu…
Mit dem Bügeleisen in die Stadt. Zwischen den Touristen fühle ich mich wie der einzige "richtige" Fahrgast an Bord.


Dann nehme ich das nächste Schiff - es ist kein Bügeleisen, sondern die „Falkenstein“ und damit ein auf der 62 eher selten eingesetzter Schiffstyp - rüber zu den Landungsbrücken, fahre dann mit dem Bus nach Altona rauf und schaue, was gerade im Angebot ist. Das Wetter hat inzwischen ziemlich zugezogen. Außerdem habe ich Lust, mal einfach ein paar Stunden geradeaus zu fahren und endlich den Krimi zu lesen, den ich schon seit Wochen im Reisegepäck führe. Der ICE 1, der bei meinem Auftreten in Altona zur Abfahrt bereit steht und sogar noch unreservierte Abteil-Fensterplätze zur Auswahl hat, wird da gleich mein Mittel zum Zweck. Ich steige ein, und schon wenige Minuten später geht die Fahrt los, Richtung Süden. Ach so, Süden: Der ICE soll nach Auskunft seiner Innenraum-Anzeigen nach München fahren. Direkt über Hannover - Würzburg, also nicht via Berlin, Köln und/oder Stuttgart. Bis wo ich fahre weiß ich gerade noch nicht. Zwischendurch sehe ich, dass heute ein Fahrtag der Museumseisenbahn auf der Rinteln-Stadthagener Eisenbahn in Südniedersachsen stattfindet. Die Strecke "fehlt" mir noch, außerdem werden da Schienenbusse eingesetzt - das geht immer. Zumal an einem zunehmend trüben Tag, an dem Fotografieren meist eh nur zu Ergebnissen führt, über die man sich nachher ärgert. Also: heute ist Reisetag! Mit einem flinken Umstieg in Hannover würde ich noch die Mittagsfahrt von Stadthagen nach Rinteln erreichen.

Getreu dem Motto "in Hannover steigt man nicht aus, in Hannover steigt man nur um" verlasse ich meine Weißwurst und begebe mich hinüber nach Gleis 2. Der Zug von Hannover nach Stadthagen ist eine S-Bahn der Firma Transdev nach Minden, von außen bunt wie ein Silvesterfeuerwerk. Zu feiern ist das aber nicht wirklich, denn ganz augenscheinlich hat man in Hannover ein mächtiges Graffity-Problem. Ich kann mich schon fast glücklich schätzen, dass ich an meinem Platz aus den Fenstern schauen kann. Nach der Ankunft in Stadthagen, DB-Bahnhof, beginnt erst einmal die Suche nach dem Bahnhof "Stadthagen West", wo die private Strecke der Rinteln-Stadthagener Eisenbahn (KBS 12374) beginnen soll.
Mächtig prächtig für eine Kleinstadt: Staatsbahnhof in Stadthagen, einst Residenz derer von Schaumburg.


Ich laufe also auch erst einmal nach Westen, folge einem Wegweiser und finde nach etwa 10 min Fußmarsch das gesuchte Objekt. Dieses liegt einige Hundert Meter vom DB-Bahnhof entfernt in einer Art Gewerbegebiet. Auf die hier beginnenden Museumszüge weist am Zaun ein drei Jahre altes Werbeplakat aus dem Jahre 2019 hin. Ob die Fahrplan- und Fahrpreis-Angaben darauf noch stimmen prüfe ich nicht nach, denn aus der Ferne ist bereits das unverkennbare Pfeifen eines Schienenbusses zu hören. Es scheint also wirklich etwas zu fahren. Kurze Zeit später rollt er an den kleinen Bahnsteig, dessen Zugang erst nach Zugankunft vom Zugpersonal geöffnet wird.
Stadthagen West, nicht ganz so prächtig.


Gut besetzt zeigt sich das zweiteilige Gespann. Das Fahrzeug, in welchem ich nun Platz nehme, scheint ursprünglich aus Österreich oder von der AKN zu stammen, denn es ist ein Modell mit Übersetzfenstern. Für den Bundesbahn-Puristen natürlich ein Sakrileg, aber zum Mitfahren deutlich angenehmer: man kann man den Kopf rausstrecken, und an heißen Tagen gelangt doch deutlich mehr Frischluft in die Fahrgastzelle als durch die winzigen Klappfenster des DB-Derivates. Ich klappe mir die Rückenlehne einer noch freien Sitzreihe um, dass ich in Fahrtrichtung sitze, und kurze Zeit später geht es auch schon zurück. Der gute aufgelegte Schaffner möchte für die einfache Fahrt 6,- Euro von mir haben - ein absolut fairer Preis für eine Stunde Schienenbus (o.k., mit 15 min Aufenthalt in Obernkirchen).

Die Fahrt ist unspektakulär, aber landschaftlich sehr kurzweilig. Ortsdurchfahrten wechseln sich mit klassischer Nebenbahn-Streckenführung durch Felder und Wälder ab, mitunter öffnen sich Richtung Westen weite Blicke über das Land.
Mit dem Schienenbus auf Landpartie.


So vergeht die Stunde in gefühlt einer halben Stunde. Dann kommen wir in Rinteln an, auch hier wieder im separaten "Kleinbahnhof" quasi auf dem Bahnhofsvorplatz. Der Bahnhof heißt Rinteln Nord, liegt aber südlich des DB-Bahnhofes. Offenbar hat man damals bei der Benennung der Station die Landkarte verkehrt herum gehalten. Oder es stammt aus jener Zeit, als die Rinteln-Stadthagener Eisenbahn von hier mitten durch Rinteln Anschluss an die - ebenfalls private - Exertalbahn hatte. Diese beginnt heute weit südlich vor den Toren der Stadt. Sie wird abschnittsweise auch museal betrieben und steht ebenfalls noch irgendwann auf meiner Besuchsliste. Denn die Exertalbahn ist elektrifiziert, sodass dort nicht mit Dampf oder Diesel, sondern mit uralten Elektroloks gefahren wird.
Rinteln Nord, südlich des DB-Bahnhofes.


Heute ist im Exertal leider kein Fahrtag und eine Kombination beider Bahnen leider nicht möglich, sodass ich die Region an der Weser verlasse und mit der "großen" Eisenbahn von Rinteln über Hameln nach Elze fahre. Dort stoße ich wieder auf die alte Nord-Süd-Strecke Hamburg - München. Der Metronom nach Göttingen wartet auf unsere verspätete Nord-West-Bahn und bringt mich nach Göttingen, wo sich mir erneut die Frage von heute früh stellt: was nun?

Auf dem Fernzug-Bahnsteig läuft kurze Zeit später ein ICE nach München ein. Der Blick hinein deutet, soweit durch die verspiegelten Scheiben erkennbar, auf einen trotz Sonntag Nachmittag moderat besetzten Zug hin. Also einmal mutig eingestiegen. Es ist zwar "nur" ein ICE4, aber tatsächlich nur mäßig bepackt. Ich finde noch eine freie Zweier-Sitzreihe ohne fetten Fensterholm im Blickfeld, also kein Wandfensterplatz. Wo ich aussteige weiß ich auch dieses Mal noch nicht. Doch reift langsam der Plan, einmal Richtung Mühldorf vorzudringen. Aufhänger ist die Strecke 942 nach Burghausen am Inn. Die sticht auf meiner Streckenkarte, auf der ich die bereits bereisten Bahnlinen nachzeichne, wie ein hässliches Furunkel hervor: in einer rundherum längst nachgezeichneten Gegend wartet diese bis heute auf ihre Bereisung. Da sich Burghausen, wenngleich im Umland durch die Chemie geprägt, der „weltlängsten Burg“ rühmt, sollte es auch jenseits des Bahnhofes nicht uninteressant werden. Mit diesen Gedanken und einem tatsächlich durchgelesenen Krimi komme ich abends in München an.

Wegen der vor einigen Tagen schon geschilderten Bauarbeiten fahren die Züge nach Mühldorf (- Burghausen) nicht vom Hauptbahnhof, sondern erst ab München Ost. Dorthin muss man heute mit der S-Bahn fahren. Kein Problem, die fährt alle paar Minuten und ist in weniger als 10 min da - normalerweise. Leider kommt es ziemlich genau mit meiner Ankunft zu einem „Notarzteinsatz am Gleis“ bei der S-Bahn. Das wiederum führt dazu, dass sich die Abfahrt der Züge unten im Tunnelbahnhof „unbestimmt verzögert“, der Bahnsteig langsam ungesund mit Fahrgästen vollläuft und ich sicherheitshalber auf die 21er-Tram, wie die Strapazenbahn hier heißt, umsteige. Nun, diese Idee hatten auch noch andere Ortskundige, dass ich am Ende mit gut einstündiger Verspätung in einer bumsvollen Straßenbahn am Ostbahnhof ankomme.
Da die S-Bahn nicht fährt, gibt es hier ein Bild vom 2021 am Münchner Stachus. Sonst würdet ihr an dieser Stelle ein leeres Gleis und überfüllte Bahnsteige sehen.


In München Ost geht es gleich weiter mit dem Chaos, denn auch in Richtung Markt Schwaben kommt es wegen einer Signalstörung zu den nächsten Verspätungen und Ausfällen. Ja, Bahnfahren ist toll! Da ich auf die Regionalbahn und die digitale Fahrgast(des)information der DB nicht viel Hoffnung setze, gehe ich zum S-Bahnsteig und warte einmal, was passiert. Tatsächlich kommt eine S2 nach Erding eingefahren, die ich bis Markt Schwaben nutzen will. Von dort würde ich sicher eher nach Mühldorf kommen. Der Lokführer nimmt das Chaos entspannt und sagt über Lautsprecher, er wisse noch nicht genau, bis wo wir heute kämen. Zunächst heißt es, in Feldkirchen sei die Fahrt zuende. Kurz vor dem Halt meldet sich dann aber noch einmal der Lokführer und sagt, er hätte am anderen Bahnhofsende gerade Ausfahrt bekommen, es ginge jetzt wohl doch weiter. Fahren auf Zuruf also, interessant. Im stop-and-go rollen wir ostwärts, aber die Hoffnung auf eine Ankunft in Mühldorf oder gar Burghausen zu sozialverträglicher Tageszeit habe ich längst aufgegeben. Außerdem brauche ich ja noch eine Unterkunft. Um nicht am Ende gegen Mitternacht im oberbayerischen Hinterland zu stranden und die Nacht auf der Bank vor dem Mühldorfer Bahnhof (oder wie zu Interrail-Zeiten in einem abgestellten Reisezugwagen) verbringen zu müssen, breche ich meine Reise Buxtehude - Burghausen in Markt Schwaben ab und beziehe gegenüber des Bahnhofes ein kleines Hotel, welches mich in einem riesigen Zimmer in ruhiger hinten-raus-Lage mit dem Abend wieder versöhnt. Danach bekomme ich vom kurzen Rest des Tages auch nicht mehr wirklich viel mit.


Tag 8:
Nun also Markt Schwaben. Wie heißt es so schön: war zwar nicht geplant, hat sich aber so ergeben. Nachdem mich das S-Bahn-Chaos am gestrigen Abend hier angespült hat und eine Weiterfahrt Richtung Mühldorf mit mitternächtlichen Ankünften im oberbayerischen Hinterland verbunden gewesen wäre, bezog ich also hier Quartier.

In einschlägigen Reiseführern „was man in Deutschland gesehen haben muss“ ist mir Markt Schwaben bislang nicht begegnet. Sonst wüsste ich vielleicht auch, wieso der Ort, fernab Schwabens gelegen, überhaupt diesen Namen trägt. Dennoch möchte ich meinen unfreiwilligen Aufenthalt hier noch etwas veredeln. Dieses auch mit Dingen, die nicht im Reiseführer stehen, sondern eher des Pufferküssers Herz erwärmen. Dazu muss man allerdings früh aufstehen: zu den Stunden 6 und 7 fahren von Mühldorf zwei der zu den größten Zügen Deutschlands gehörenden Doppelstock-RE nach München hinein. Acht oder neun Wagen, rund 1.000 Sitzplätze, nonstop oder mit nur einem Zwischenhalt, befördert von zwei der rund 50 Jahre alten Diesellok-Klassikern der Baureihe 218. Wenigstens ist es am frühen Morgen Mitte/Ende Juni schon taghell, als ich aus dem Ort heraus über die taunassen Wiesen im Osten des Ortes stiefele und einen geeigneten Fotostandpunkt suche. Die Szenerie mutet ausgesprochen ländlich an, überhaupt nicht nach dem Vorhof der Millionenstadt München. Um mich herum Felder und Wiesen, eine einsame Joggerin trabt auf dem unbefestigten Feldweg vorüber. Dieser kreuzt die eingleisige, nicht elektrifizierte Bahnstrecke auf einem Blinklicht-Überweg aus tiefsten Bundesbahnzeiten.
Das also ist der Speckgürtel Münchens? Zu früh ausgelöst: Den Zug hätte ich noch ein kleines Stück weiter kommen lassen können.


An einem ebenso ländlich wie die ganze Szenerie anmutenden Aussiedlerhof (oder wie das in Bayern heißt) finde ich eine Stelle, auf der die Chance besteht, die ganze, mehrere Hundert Meter lange Fuhre auf ein Bild zu bekommen. Bis dahin genieße ich einfach die Stille des Morgens und die ersten wärmenden Sonnenstahlen. Dann warte ich darauf, dass sich im Osten das markante Antlitz der 218 auf dem Bahndamm zeigt und gebe mir Mühe, in der mich umgebenden Idylle nicht wieder einzuschlafen.

Kurz gesagt: der Bildfang ist geglückt. Alle Wagen und beide Lokomotiven passen im strahlenden Sonnenschein knapp in den Bildausschnitt.
Tausend Plätze, zwei 218: So geht Berufsverkehr! Markt Schwaben kurz nach Sonnenaufgang.


Einige Minuten später folgt auch noch der über Mühldorf umgeleitete, mächtig verspätete Euro-Night „Kalman Imre“ aus Budapest. Mit seinem 218-Doppel, den ungarischen Waggons, den kroatischen Kurswagen aus Zagreb und Rijeka sowie den Österreichern aus Venedig ist er in der farblich sonst doch sehr uniform gewordenen Fernverkehrswelt ein kunterbunter Kontrapunkt. Auch vermag er bei der illustren Auswahl seiner Herkunftsorte ein wenig von dem Fernweh aus Interrail-Zeiten zu wecken, das am Wandfensterplatz eines raumoptimierten Großraumwagens im ICE nach "Dortmund über Essen" und „Berlin Gesundbrunnen“ nicht so wirklich mehr aufkommen mag. Aber Venedig mit dem Nachtzug ist dann ein anderes Mal dran (Anm.: das erfolgte dann am 11. Dezember 2022, als der Zug erstmals ab/bis Stuttgart fuhr), heute komme ich nur aus Markt Schwaben. Da es inzwischen rasch zugezogen hat, stapfe ich in die Unterkunft zurück.
Leider schon ohne Sonne: der umgeleitete Nachtzug "Kalman Imre" aus Budapest - Wien/Venedig/Zagreb - Ljubljana und Rijeka.


Zwei Stunden, noch eine Mütze Schlaf und ein ausgesprochen gutes Frühstück in meinem bahnhofsnahen Hotel später stehe ich dort also wieder am Bahnhof. Nun noch nach Mühldorf oder Burghausen rauszufahren habe ich keine Lust mehr, zumal der strahlende Sonnenschein vom frühen Morgen während des Frühstücks einer ziemlich homogenen Wolkendecke gewichen ist. Klassisches Stadtwetter also. So beschließe ich, erst einmal einfach nach München reinzufahren. Auf dem Bahnhof von Markt Schwaben knüpft die Deutsche Bahn AG dann allerdings nahtlos an jenem Punkt an, an dem sie mich genau hier gestern Abend verabschiedete: mit einer Signalstörung. Na, klasse! Ein Doppelstockzug und zwei S-Bahnen stehen zur Fahrt nach München bereit. Die Informationen sind widersprüchlich, die Anzeigen melden schon einmal präventiv alle nächsten Abfahrten als Ausfall, und die automatisierten Ansagen erinnern lieber an die FFP-2-Maskenpflicht als sinnvolle Informationen zur Weiterfahrt zu geben.
Die ausfallenden Züge fahren heute von Gleis 1 oder 2 (und der auf Gleis 2 fuhr schließlich nach Mühldorf). Hurra, wir digitalisieren die Fahrgastinformation!


Aufopferungsvoll versucht die Lokführerin des Doppelstockzuges, die herumirrenden Fahrgäste mit Informationen zu versorgen, die aber auch sie nicht wirklich erhält. Ob nun eine der S-Bahnen zuerst fahren dürfe oder sie oder ob man sie gleich wieder nach Mühldorf zurückschickt… Keiner weiß es. Fahren auf Zuruf, Teil 2. Dann aber fährt, unerreichbar drüben vom anderen Bahnsteig, auf einmal eine S-Bahn Richtung München ab. Keine Ansage, keine Anzeige, nichts… Hey, warum kaufe ich mir eigentlich kein Auto?
(Viel zuviel) Zeit für uns: Während die Digitale Fahrgastinformation einmal mehr völlig versagt, sind es die Lokführerinnen, die sich um ihre Kunden bemühen.


Das passiert uns aber nicht noch einmal! Gemeinsam mit Alicia, die eigentlich nur nach München Ost fahren möchte, schließen wir ein Agreement mit den Lokführerinnen der vis-á-vis wartenden S-Bahn und des Doppelstockzuges: wir beobachten die Ausfahrsignale Richtung München. Denn im Gegensatz zur Ansagen und Anzeigen lügen Ausfahrsignale nicht: sind die grün, fährt ein Zug Wenn also nun eines von ihnen auf „Fahrt“ geht, wird rasch die Lokführerin des anderen Zuges informiert. Diese würde dann in ihrem Zug eine Durchsage machen, damit die Fahrgäste noch nach gegenüber umsteigen können. Eine Fahrgastkommunikation wie auf einer brasilianischen Bananenbahn, aber im Gegensatz zur digitalisierten DB AG funktioniert dieses 100% analoge System perfekt: irgendwann erhält der Dosto Ausfahrt, kurze Info zur S-Bahn-Lokführerin, diese macht eine Durchsage in ihrem Zug, woraufhin mehrere Hundertschaften Fahrgäste aus der Sausebahn in den gegenüber stehenden Doppelstock quellen. In erstaunlich kurzer Zeit ist das selbstverladende Stückgut umgeschlagen, und es geht tatsächlich los! Dass bei alledem in Markt Schwaben keinerlei offizielle Ansage oder Anzeige erfolgten, braucht hier wohl nicht extra erwähnt zu werden. Im Zug bleibt, wenngleich nur auf einem Stehplatz im Mehrzweckbereich, noch Zeit für einen nun wieder entspannteren Austausch. Eigentlich hat die ursprünglich auch aus Baden-Württemberg stammende Alicia, die nahe des Münchner Ostbahnhofes einen Arzt-Termin hat, für die Anreise mächtig viel Pufferzeit eingebaut. Die ist nach der Zwangspause in Markt Schwaben längst auf ein Minimum zusammen geschmolzen. Die Konsequenz aus dieser ruhmreichen Aktion der DB wäre in der reinen Lehre eigentlich, künftig mit dem Auto nach München reinzufahren, denn das ist auch mit 15 min Staustehen deutlich zuverlässiger. Eigentlich nicht das, was verkehrspolitisch geboten wäre. Aber nach einer Aktion wie heute früh kann man es niemandem verdenken, das nächste Mal nicht mehr den Zug zu nehmen.

Auf dem Busbahnhof in München Ost trennen sich kurz vor halb elf Uhr unsere Wege. Alicia kommt hoffentlich noch rechtzeitig unters Messer, ich fahre wieder mit der Strabse 21 oberirdisch in die Innenstadt.
Vorsicht, die Kurve ist scharf! Mit der Trambahn in die Weltstadt mit Herz (einstige Eigenwerbung).


Die Stadt ist an solch einem normalen Arbeitstag nicht ganz so von Touristen überlaufen wie am Wochenende oder gestern Abend beim S-Bahn-Lockdown. Na gut, ich bin ja heute selbst auch ein Tourist, also mal nicht beschweren. Da ich jetzt viel Zeit und eigentlich auch kein wirkliches Ziel habe, lasse ich mich einfach ein wenig durch die Stadt treiben, besuche das eine oder andere Geschäft, lande zum T-Shirt-Kauf in einer sündhaft teuren Boutique, entdecke eine zu einem Michael-Jackson-Denkmal umfunktioniertes Orlando-di-Lasso-Statue (ein italienischer Musiker aus dem 16. Jahrhundert - aber die steht direkt gegenüber von MJ´s Münchner Stammhotel) und genieße einfach dieses wunderbare Fluidum der Stadt, welche gerade im Sommer irgendwie so richtig „Süden“ ist.
Wallfahrtsstätte für die Jünger von Michael J. Action (oder so).


München eben!


In einer urigen bayerischen Gaststätte abseits der Touri-Rennbahnen gibt es noch einen zünftigen Schweinebraten mit bayerischen Knödeln. Dann schleppe ich mich mit vollem Bauch zum Hauptbahnhof zurück und besteige den nächstbesten Zug Richtung Stuttgart, einen Intercity nach Karlsruhe. Die nächsten zweieinviertel Stunden vergehen dann überraschend unspektakulär. Im mäßig besetzten Zug erwische ich sogar noch einen Fensterplatz in einem 6-er-Abteil, welches ich mit einer die ganze Zeit mit ihrem Mobiltelefon beschäftigten Touristin aus Fernost teile. Hm, ob sie zum Zocken extra nach Deutschland gefahren ist? Egal. Pünktlich komme ich in Stuttgart an, sonst ist nichts Aufregendes passiert. Denn dass die Reservierungen wieder einmal nicht angezeigt werden können, ist ja inzwischen fast schon Normalzustand.


Tag 9:
Vor die Kür hat mein Brötchengeber die Pflicht gestellt. Eine Dienstreise führt mich nach Karlstadt am Main, nördlich von Gewürzburg. Das ist aus Stuttgarter Perspektive schon kurz vor der Ostsee. Was also liegt näher, als anschließend noch ein paar Tage Urlaub anzuhängen und von dort aus gleich weiterzufahren?

Auch, wenn es bei dem Termin um den bundesweiten Fernverkehr geht, reise ich ausschließlich mit Regionalzügen an. Zuerst mit der DB-Hamsterbacke von Böblingen nach Stuttgart, dann im Flirt-Triebzug von Go-Ahead die gut zwei Stunden nach Würzburg und schließlich mit einem DB-Doppelstock-Twindexx nach Karlstadt. Dem einzigen Fernverkehrszug begegne ich bei einem kurzen Blick in die Würzburger Fußgängerzone. Hm, wollte man nicht einmal ICEs zu Lazarettzügen umbauen?
ICE-3-Apotheke, Würzburg.


Sie haben ihr Ziel erreicht!



Tag 10:
Mit Bernd aus Berlin trete ich am Folgetag also nicht den Rückweg, sondern die Weiterreise an. Zunächst geht es über Sterbfritz (was für ein Ortsname!) nach Schlüchtern, dort steigt man für die letzten 20 Minuten in den von Frankfurt am Main kommenden RE nach Fulda um. Fahrzeit Karlstadt - Fulda: knapp eineinhalb Stunden. Auf der parallelen Autobahn 7, immerhin Deutschlands längster Straße, würde das ganze sicher nur rund 30, 40 Minuten dauern.
Gut, dass Fritz nicht dabei ist!


In Fulda fahren ziemlich zeitgleich zwei ICEs nach Berlin. Einer über Erfurt, einer über Braunschweig. Unisono entscheiden wir uns für die "klassische" Variante über Braunschweig, denn das ist ein ICE 1. Wir erobern ein freies Abteil, in dem wir uns ungestört über Gott und die (Eisenbahn-)Welt unterhalten können. Hessen und Niedersachsen fliegen vorbei, dann geht es auf die Transitstrecke und ohne Halt durch die DDR. Fast wie früher, nur schneller und über Wolfsburg - Spandau statt einst über Magdeburg und Wannsee. Wir kommen sogar pünktlich in Berlin an! In Zeiten, da fast jede Fernreise mit einem Fahrgastrechte-Formular endet, soll das an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden!

Bernd steigt am Mehdornium aus, ich fahre zum Ostbahnhof weiter. Von dort aus geht es mit der Sausebahn zum Ostkreuz.
Ringbahnhalle Ostkreuz im Thcilnegeg.


Noch ein Stück weiter östlich wohnt Ingulf. Den habe ich jetzt irgendwie auf jeder Deutschlandreise getroffen. Leichtsinniger Weise meinte er vor einiger Zeit, ich sollte doch mal wieder vorbeikommen. Das hat er nun davon: ich bin da! Ingulf hat vor seinem sog. Ruhestand lange Jahre in führender Position bei DB Fernverkehr gearbeitet, ist Eisenbahner mit Herz und Seele und kennt jeden Zug, jeden Bahnhof und auch jeden Verkehrsminister mit Vornamen. Bei meinem (zugegeben: angekündigten) Aufkreuzen hat er gerade Besuch von einem einstigen Weggefährten bei der Eisenbahn. So vergehen die Stunden auf Ingulfs Balkon wieder viel zu schnell. Außerdem fahren unten auf der Spree Schiffe und auf dem parallelen Uferweg Radfahrer und Fußgänger vorbei - es gibt also immer etwas zu gucken! Wenn es dann sogar im Zulauf auf die Mitsommernacht irgendwann dunkel wird, ist das ein gutes Zeichen für einen gelungenen Abend. Dankenswerter Weise gewährt mir Ingulf Asyl für die folgende Nacht. Es ist weit nach Mitternacht, als wir uns in die Betten verabschieden.
Blick von Ingulfs Balkon auf die Armada der Ausflugsschiffe.


Tag 11:
Ingulf hat am folgenden Morgen ein frühes Date und seine Wohnung vor mir verlassen, als ich gegen 9 Uhr die Tür hinter mir zuziehe. Ingulf, danke für deine Gastfreundschaft und den netten Abend gestern! Am Ostbahnhof versuche ich, bei McDonald´s ein Frühstück einzunehmen. Was, der geht zu McDonald´s? Wahrscheinlich werde ich jetzt von 30% der Leserschaft geächtet. Das schmeckt da aber wirklich gut, so Burger mit Ei oder Croissants mit Erdbeermarmelade. Allerdings haben sie am Ostbahnhof kein Frühstyxangebot. Wohlgemerkt: In Berlin! Am Ostbahnhof! Endpunkt diverser ICE-Züge aus ganz Deutschland! Auf Pommes mit Mayo oder einen Fischmäc um halb zehn Uhr habe ich aber auch keinen Appetit, sodass ersatzweise eine Bäckerei angesteuert wird. Dann besteige ich eine Hamsterbacke, die mich in der kommenden halben Stunde quer durch Berlin bis Potsdam bringen wird. Dort möchte ich mich mit Katharina treffen. Wir sind über ein paar Ecken miteinander verwandt und haben im 19. Jahrhundert irgendeine gemeinsame Ur-Ur-Urgroßmutter, uns aber ewig nicht mehr gesehen. Im letzten Jahr hat das Treffen auch nicht geklappt, aber dieses Jahr sieht es gut aus. So fahre ich bis Potsdam Rehbrücke und laufe zur Straßenbahn-Wendeschleife, wo mir Katha entgegen kommt.

Sie ist vor einigen Monaten Mama geworden und schiebt in ihrer Karre eine unglaublich quirlige und fröhliche Luisa vor sich her. Knapp vier Stunden sind wir unterwegs, ohne dass die Kleine auch nur einmal quengelt (aber auch nicht schläft). Also, langweilig wird es den beiden sicher nicht.
Eis und Wickelpause bei Janny´s Eis in der Potsdamer Waldstadt.


Irgendwann sind aller familiärer Tratsch und 1.000 andere Dinge ausgetauscht. Außerdem ist für die Kleine dann doch einmal Schlafenszeit. Wir trennen uns... nein, nicht tränenreich, aber mit dem feierlichen Gelübde, mit dem nächsten Treffen nicht wieder fünf oder mehr Jahre zu warten (tatsächlich waren es dann nur zwei Monate, das hätten wir auch nicht gedacht). Am Bahnhof Rehbrücke fallen gerade alle Züge Richtung Berlin aus, angeblich hat es irgendwo im Brandenburgischen an der Strecke gebrannt. So begleitet mich Katharina noch zur Straßenbahn, die mich zum Potsdamer Hauptbahnhof, dem ehemaligen Stadtbahnhof bringt. Der liegt an einer anderen Strecke nach Berlin. Hier, so meine Hoffnung, fahren zur Abwechslung vielleicht auch Züge.
Potsdam: Der Tatrawagen lebt! Tschechische Formensprache vor einem Mix aus preußischem Backstein und einer Lebensaufgabe für Fensterputzer.


Potztausend! In diesem Bahnhof muss derjenige, der die Gleisnummern festgelegt hat, betrunken gewesen sein.



Dann fahre ich nach Berlin hinein, wo ich am frühen Nachmittag am Hauptbahnhof auflaufe.
Mehdornium, Gruft (Bild von einer vorherigen Tour).


Einen konkreten Plan habe ich wieder einmal nicht. Warum auch? Ich habe Urlaub, das Wetter ist schön, und der Tag ist noch vergleichsweise jung. Oder, gemäß der Werbung des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg: Alles ist erreichbar! Sogar nach Hause zurück fahren könnte ich heute noch, wenn ich wollte. Will ich aber nicht, da bin ich ganz meiner Meinung. Auf der Anzeigentafel bleibt mein Blick an dem Eurocity 174 "Berliner" hängen. Nach Flensburg soll der fahren. Ganz in den Norden! Dort war ich auf meiner Deutschlandreise noch nicht, und das als Fischkopf! Geht gar nicht! Dort außerdem lebt, wie der mündige Leser des 2021-Reiseberichtes weiß, meine Tante. Die sagt auch immer "kiek doch mol wedder in". Ja, warum nicht? Um es kurz zu machen: Der EC "Berliner" ist meiner! Schade nur, dass ich unterwegs schon eine Kleinigkeit gegessen habe. Sonst hätte ich direkt den tschechischen Speisewagen angesteuert. Der ist längst zum Kult geworden und hebt sich mit seiner böhmischen Restaurace-Atmosphäre angenehm vom etwas kühlen "Bord-Restaurant" der Deutschen Bahn AG ab. Jetzt ein Svíčková na smetaně (Lendenbraten in viel, viel Sahnesoße, dazu böhmische Knödel)... da wird sogar die eintönige Landschaft zwischen Deutschlands größten Städten zu einer Genussreise. Man kann ja auf den Teller gucken und sich erfreuen.
Hamburg, meine Perle! Heute aber nur im Transit des tschechischen Eurocitys "Berliner" Prag - Flensburg.


Kurz nach 19 Uhr komme ich in Flensburg an. Hier, ganz im Norden, steht die Sonne noch ungefähr so hoch am Himmel wie vorhin gegen 15 Uhr in Berlin. Viel zu früh also, um ins Bett zu gehen. Also wird unten an der Hafenspitze noch Hansens Brauhaus angesteuert. Viel falsch machen kann man da nicht, nur sollte man nicht unter Essbehinderungen (Veganismus etc.) leiden. Dann schmeckt es gleich noch mal so gut.


Tag 12:
Irgendwann bin ich in der darauffolgenden Nacht doch eingeschlafen, obwohl es ja dort, ganz im Norden, zwischen Mai und Juli nie so richtig dunkel wird. Für den folgenden Tag habe ich mir vorgenommen, den landesbestellten Ausflugsverkehr auf der Strecke von Kappeln nach Süderbrarup und weiter nach Eckernförde auszuprobieren. Ein erster Schritt zur "richtigen" Reaktivierung? Auf jeden Fall ein guter Schritt. Und eine Taktik, mit der in Schleswig-Holstein, ähnlich wie in Ba-Wü, schon andere Strecken behutsam ins Bahnnetz zurück geholt wurden. Der dort eingesetzte Schienenbus aus dem Nachlass der AKN lockt zusätzlich zur Mitfahrt. Die Idee stößt bei meiner Tante, die durch ihre eigenen Söhne bahnmäßig selbst ein Stückweit vorbelastet ist, auf reges Interesse. "Dann komme doch einfach mit!". Ja, warum eigentlich nicht? Kurze Zeit später sitze ich also das erste Mal seit mehreren Wochen wieder in einem Automobil, welches uns auf der Bundesstraße 199 von Flensburg nach Kappeln bringt.

Die kleine Stadt an der "Mündung" der Schlei in die Ostsee versprüht den so lange vermissten maritimen Charme. Bei unserer Ankunft ist die Brücke mitten in der Stadt hochgeklappt und gewährt einigen Freizeitkapitänen den Vorrang vor dem Autoverkehr. Verkehrsberuhigung auf norddeutsch.
Kappeln, Schlei. Hier klappt alles!


Die Abfahrtsstelle des Schienenbusses liegt direkt am Hafen, quasi im Rücken des obigen Fotos. Wir ergattern im gut besetzten Zug noch einen Platz in der ersten Sitzreihe. In keinem anderen Schienenfahrzeug lässt sich die Fahrt so unmittelbar erleben wie im Schienenbus, freier Streckenblick aus der Lokführerperspektive inklusive. Bald geht es los, auch die Bahncard 100 wird anstandslos anerkannt. Auf schwankendem Oberbau schaukeln wir über die einstige Kreisbahn-Kleinbahn durch die Landschaft Angelns. Pfeifend werden unzählige kleine Bahnübergänge passiert, wir durchfahren regelrechte Baumtunnel, beschauliche Ortsdurchfahrten und winzige Haltepunkte ziehen vorüber. Mit Lokführer und Zugbegleiter ergibt sich ein wenig Smalltalk - schon klasse, was hier auf die Beine gestellt wurde! Unter uns knattert der markante Sound des Büssing-Motors, hinter uns ist verhalten das das Stimmengemurmel der anderen Fahrgäste zu hören, durch die geöffneten Fenster zieht der Sommerwind. Bahnfahren kann so schön sein!
Im Schienenbus durch Angeln, Logenplätze.


In Süderbratwurst wechselt unser Zug in einem unglaublich aufwändigen Zugmelde- und Rangiermanöver auf die DB-Strecke Flensburg - Kiel. Sparsam, wie Bahn-Infrastruktur anno 2022 wohl nun einmal dimensioniert sein muss, ist die Kappelner Strecke nur durch eine Handweiche angeschlossen. Für einen "richtigen" Anschluss an das neue Elektronische Stellwerk war man offenbar nicht willens, das kost´ ja Geld... So müssen wir zunächst die DB-Züge passieren lassen, dann muss die Strecke freigemeldet werden, dann müssen mehrere Weichen in einer bestimmten Reihenfolge vom Zugbegleiter freigeschlossen und umgelegt werden, dann dürfen wir vom Kleinbahn-Gleis in den DB-Bahnhof einfahren, dann muss hinter uns das Weichen-Schlüssel-Melde-Prozedere in umgekehrter Reihenfolge durchexerziert werden... Eilig darf man es hier nicht haben.

Ganz bis Eckernförde wollen wir nicht fahren. Wir verlassen den Schienenbus in Lindaunis. Dort überquert die Eisenbahn auf einer uralten kombinierten Straßen-Schiene-Brücke den Osteefjord Schlei. Seit 2021 gibt es hier auch wieder einen Haltepunkt (in dem übrigens Ingulf aus Berlin seine Finger mit im Spiel hatte), nachdem die Züge hier zuvor seit etwa 35 Jahren nur noch durchfuhren. Dieser Haltepunkt wird von den Ausflugszügen bedient. Bei unserer Ankunft ist uns die Weiterfahrt ohnehin verwehrt. Die Klappzeiten haben die neuen Zugverkehre offenbar noch nicht auf dem Schirm, denn die Brücke reckt sich vor uns gerade senkrecht in den Himmel.
Hoch die Brücke!


Immerhin ermöglicht es mir die Situation, zur Brücke vorzulaufen, diese nach dem Einklappen zu Fuß zu überqueren und ein Foto von "unserem" Schienenbus bei der Überfahrt zu machen.
Oldtimer auf noch olderem Timer.



Durchblicke. Der Überbau stammt noch von der alten Eisenbahn-Drehbrücke der Marschbahn Westerland - Hamburg über den Nord-Ostsee-Kanal bei Brunsbüttel aus dem Jahre 1893 - und er hält noch heute dem Verkehr stand!


Mehr zum Vorleben der Klapp- als Drehbrücke
Nun haben wir eineinhalb Stunden Zeit, bis der Zug nach Kappeln uns hier wieder abholen soll. Wir genießen die Sonne, schlendern an der Schlei entlang und landen schließlich im ehemaligen Empfangsgebäude des alten Bahnhofes. Dort gibt es eine wunderschöne Gaststätte! Es ist allerdings erst Mittag. Da wir auf einen Fisch aber noch keinen Hunger haben, ziehen wir halt den Nachmittagstee ein paar Stunden vor.
Rødgrød med fløde, wie der Däne sagen würde. Sprich: Röu-gröu meu flöu.


Dann kehrt der Schienenbus aus Eckernförde zurück. In dem inzwischen rappelvollen Zug finden wir gerade noch einen Platz auf einem der unbesetzten Führerstands- und Beimann-Sitze.
Einfahrt Lindaunis aus Eckernförde. Und: Finger weg vom Handy!


Von Kappeln fahren wir nach Flensburg zurück. Dort findet an jenen Tagen gerade das "Dampf rundum" statt. Wenn nicht gerade Corona herrscht, wird das Fest unten an der Förde alle zwei Jahre gefeiert. Willkommen ist, was dampft. Es zirkulieren verschiedene Dampfschiffe auf dem Wasser, darunter die "Alexandra" als Lokalmatadorin und der bekannte Dampf-Eisbrecher "Stettin". Auf der Mole tuckert ein Lokomobil auf und ab. Und wenn die DB nicht vor einigen Jahren den Anschluss des Hafenbahngleises von der Strecke Flensburg - Hamburg gekappt hätte (im Gegensatz zu Südelblalup hat man hier sogar noch die Handweiche eingespart), wäre sicher auch wieder ein Dampfzug unterwegs gewesen. In der Luft liegt der typische Geruch von Kohlebrand und Wasserdampf. Es tutet und pfeift, es zischt und gluckert...
Fast wie vor 100 Jahren! Dampf rundum in Flensburg.


Am späten Nachmittag verlasse ich die Ostsee nach einem erlebnisreichen Tag mit Schiffen, Zügen und Tante. Ich möchte doch noch einmal an die Westküste rüber, das gehört - wie auch in den letzten Jahren - irgendwie dazu.

Mit der Reaktivierung der Bahnstrecke nach Niebüll geht es nicht so recht voran, aber auf Busfahren habe ich gerade keine Lust. So vollziehe ich den Küstenwechsel mit dem Zug via Schleswig - Husum. Und das war ein Fehler. Denn bei meiner Ankunft in der "grauen Stadt am Meer" steht noch der Intercity "Wattenmeer" im Bahnhof, der eigentlich schon längst irgendwo auf dem Weg vor Sylt sein sollte. Irgend etwas stimmt hier also nicht. Tatsächlich: Streckensperrung, angeblich ein Unfall an einem Bahnübergang. Die Fahrgastinformation ist wieder unter aller Kanone, ähnlich wie vor einigen Tagen in Markt Schwaben. Vom digitalen Ton-Auswurf kommen entweder keine Informationen oder falsche. So wird der Zug Richtung Hamburg als "Ausfall" angekündigt, obwohl er sich - wenngleich mit einer anderen Ersatzzugnummer - pünktlich auf den Weg macht. Was mit unserem Intercity passiert weiß auch keiner, nicht einmal der Lokführer auf seiner 218. Am Ende darf er nach etwa zwei Stunden die wieder geöffnete Strecke befahren - aber ohne Fahrgäste, da die Zugbegleiter "dank" der Verspätung ihre Arbeitszeit überschritten hätten und deshalb nur noch als Fahrgast im Leerzug mitfahren dürften. Darüber, wie inzwischen Hunderte andere Reisende weiter nach Norden kommen würden, erfährt man nichts. Ich pendele ein wenig zwischen Bahnsteig und Bahnhofsvorplatz hin und her. Fahren womöglich doch wieder Züge? Oder rollen am Bahnhofsvorplatz Busse vor? Nein, liebe DB, bei der Fahrgastinformation im Störungfalle versagst du völlig. Immer wieder. So etwas kann man nicht in Nullen und Einsen pressen und digitalisieren. Da ist jede Situation anders, da muss individuell ein Mensch informieren (falls du vor lauter Digitalisierung überhaupt noch weißt, was ein "Mensch" ist).

Nach einiger Zeit rollen am Vorplatz mehrere Busse des Unternehmens King vor. Keine Ahnung, wo die jetzt auf einmal herkamen. Der Fahrer "meines" Busses, mit dem ich auf der folgenden Fahrt ins Gespräch komme, sagt, eigentlich hätte er Feierabend. Aber als der Chef dann anrief, sind er und sechs weitere seiner Kollegen doch noch mal losgefahren. Sogar "Schienenersatzverkehr" ist in der Anzeige geschildert (auch, wenn es eigentlich "Busnotverkehr" ist, aber das ist hier wirklich egal). Offenbar ist es selten, dass sich bei ihm einmal ein Fahrgast für seine Arbeit bedankt. Hier sind es nun gleich mehrere Menschen, die ihm jetzt Respekt für diese Bereitschaft zollen, sodass er ganz verlegen wird... Liebe King-Fahrer, das war eine großartige Sache.
Bredstedt/Bräist. King-Busse, die aus Husum kamen und Fahrgäste, die nach Norden wollen.


Fahrgastinformation á la DB: wieso hängt der Info-Monitor in Bredstedt am äußersten Nordende des Bahnsteiges, wohin sich quasi niemals ein Fahrgast verirrt? Und nicht vorne an den Zugängen? Wer plant so etwas? Und wer nimmt so etwas ab?


Inzwischen habe ich genug Zeit gehabt, nach einer Unterkunft zu suchen. Es wird - wieder einmal - das Strandhotel in Dagebüll. Zum Abend werden freie Zimmer für wenig Geld feilgeboten. Rund 40 Euro mit dem opulenten Frühstücksbuffet sind ein absolut fairer Preis für dieses Haus, gleich in der ersten Reihe am Deich. Bei meiner Ankunft in Niebüll ist die letzte "Kleinbahn" nach Dagebüll natürlich längst abgefahren. Bahnpersonal sucht man hier ebenfalls vergebens. So bleibt mir nichts anderes übrig, als mir ein Taxi zu suchen und erst einmal auf eigene Rechnung die Fahrt nach Dagebüll vorzuschießen. Der Taxifahrer ist ein echter Nordfriese. Wir verstehen uns irgendwie auf Anhieb und kommen sofort ins Klönen! Auch nach der Ankunft in Dagebüll unterhalten wir uns noch eine ganze Zeit in seinem Wagen, bevor ich aussteige und im Strandhotel einchecke. Wegen der Erstattung der Taxikosten zoffe ich mich noch übrigens noch Anfang 2023 mit dem "Service"-Center Fahrgastrechte, von wo aus zunächst die Erstattung mit der fadenscheinigen Begründung abgelehnt wird, es sei ja an jenem Tage noch ein Zug gefahren und dann ständig neue Nachweise verlangt werden. Nach einem Anruf bestätigt man mir dann aber jedes Mal, dass die natürlich längst vorliegen. Was für ein inkompetenter Saftladen! Ständig rennt man bei denen wegen irgend etwas hinterher. Oder ist das gewollte Zermürbungs-Taktik, auf dass der Fahrgast irgendwann aufgibt und auf sein Recht verzichtet?

Doch davon weiß ich an diesem Abend noch nichts, als ich gegen 22:30 Uhr noch einmal auf die einsame Mole hinaus laufe und mich kräftig durchpusten lasse. Der Himmel hat sich nun völlig zugezogen. Fast bedrohlich ziehen schwarze Wolken vorüber, über denen das letzte Licht des Tages durchscheint. Der Wind rüttelt an den Lichtmasten auf der Mole und pfeift durch das Gestänge der Fährbrücken. Eine eigenartige Stimmung liegt über der Szenerie. Ganz alleine stehe ich auf der Mole, alleine mit dem Wind, den Wolken und dem Meer. Nur aus der Ferne blinken die Lichter der Insel Föhr über die unruhige Nordsee hinüber.
Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut
Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Trutz, Blanke Hans!

(Detlev von Liliencron, mächtig gekürzt)



Tag 13:
Der Blanke Hans (damit ist nicht der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel gemeint, sondern die Strumflut) lässt uns in dieser Nacht aber dann doch in Ruhe. Sogar die Sonne zeigt sich, als ich nach einem guten Frühstück am folgenden Morgen mit meinen neg-Lieblingsfahrzeug, dem "Flachland-Tiroler" T4 mit Fenstern zum Öffnen, den Fährhafen verlasse.
Strandidylle in Dagebüll mit Gleisanschluss. Meer Zug geht nicht!


Der Flachland-Tiroler, made by Jenbacher/Österreich.


Nach meiner Ankunft in Niebüll hat die Sonne den Kampf gegen die blöden Wolken dann schließlich so gut wie gewonnen. Welch eine Sünde wäre es, nun schon den Rückweg nach Süden, ins Binnenland, anzutreten. So steige ich eben in den Intercity "Deichgraf" in die andere Richtung, rüber nach Westerland, ein. Denn das 9-Euro-Ticket gilt auch im Linienbus auf Sylt - für Fahrten, die sonst ziemlich teuer bezahlt werden müssen. Das gilt es auszunutzen. Ich fahre von Westerland einmal ganz hoch bis nach List, in die nördlichste Gemeinde Deutschlands. Bis zum nördlichsten Punkt Deutschlands, oben am Ellenbogen, schaffe ich es heute nicht. Erstens fährt der Bus zum Weststrand nur recht sporadisch, und dann wären es von der dortigen Haltestelle immer noch einige Kilometer Fußmarsch ganz dort hinauf. Aber egal: Bei sehr moderaten Temperaturen und einem feinsandigen Strand genieße ich den "Sommer im Norden" auch im Stadtgebiet von List.
Life is great!


Immerhin bleibe ich von einem Sonnenbrand verschont. Am späten Nachmittag trete ich den Rückweg nach Hamburg an. Ich rufe noch einmal Ingulf an, weil der sich in diesen Tagen ebenfalls im Dunstkreis seiner alten Heimat aufhalten wollte. Tatsächlich schaffen wir es, sehr spontan, uns abends noch einmal auf ein Labskaus, ein Bauernfrühstück oder eine andere deftig-deutsche Delikatesse im "Nagel" zu treffen. Das "Nagel" ist eine urige, uralte kleine Gaststätte dort, wo man sie vielleicht am wenigsten vermutet: direkt gegenüber vom Hamburger Hauptbahnhof am Zugang zum Stadtteil St. Georg, welcher wiederum so etwas wie das Gegenstück zu Blankenese oder Eppendorf darstellt. Wir bestellen einfach Bratkartoffeln mit Spiegelei - in welcher Gaststätte bekommt man so "Einfaches" noch? Obwohl wir uns ja erst vor kurzer Zeit gesehen haben (siehe Tag 9) gibt es wieder unendlich viel zu erzählen! Es ist schon später Abend, als ich mit dem letzten Intercity des Tages die Hansestadt verlasse und mich schon einmal ein Stück Richtung Südwesten vorarbeite.
Ad-hoc-Treffen mit Ingulf am Hauptbahnhof, dann geht es ins "Nagel". Böhmische Knödel gibt es dann ein anderes Mal (Eurocity "Berliner" Prag - Kiel).


Gegen Mitternacht beende ich meine Fahrt in Münster. Weiter bis Essen oder Duisburg zu fahren habe ich keine Lust mehr. Außerdem werde ich nach dem unglaublich anstrengenden Tag am Strand von List doch langsam müde. In Münster hat das B&B-Hotel unweit des Bahnhofes noch günstig ein Zimmer für mich. Es ist kurz vor 1 Uhr, als ich in die Federn krieche - und aus diesem um 3 Uhr (in Worten: Drei Uhr!) wieder rausgeschmissen werde: Feueralarm! Glaubt mir: es ist ziemlich brutal, mitten in der Nacht von dem Geheule des Rauchmelders aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden. Und weil eben auch der Rauchmelder in meinem Zimmer heult, bekomme ich erst einmal Panik, dass ich der Auslöser des Alarms gewesen sein könnte. Nachdem es aber aus allen Richtungen piept und heult beruhige ich mich wieder, ziehe mir schnell etwas über und reihe mich in die Karawane der schlaftrunkenen Hotelgäste ein, die nun über die Treppe nach unten ins Freie trottet.
Guten Morgen, hier ist Münster, drei Uhr nachts. Vorne das alte Gleis der Hafenbahn (Handy-Foto).


Nach einer halben Stunde wird das Gebäude wieder freigegeben: falscher Alarm! Während ich das zweite Mal in dieser Nacht einschlafe ziehe ich meinen Hut vor den Feuerwehrleuten, die bei Tag und Nacht, zu jeder Uhrzeit, für uns in den Einsatz gehen.


Tag 14:
Das nächste Mal Aufstehen verläuft erfreulich weniger hektisch als vor sechs Stunden. Mit dem gerade vorbei kommenden und direkt vor dem Hotel haltenden Linienbus lasse ich mich zum Bahnhof chauffieren. Mein Ziel für heute ist es, irgendwann am Abend in Böblingen zu sein, denn morgen möchte mich mein Chef gerne wieder sehen. Als ich am Hauptbahnhof ankomme, sind die interessanten Züge nach Süden um die volle Stunde allerdings gerade abgefahren, und natürlich waren sie gerade heute auch pünktlich. Ich fahre daher erst einmal mit einem Regionalexpress bis Dülmen. Keine Angst, Dülmen muss man nicht kennen. Es liegt auf halber Strecke zwischen Münster und Recklinghausen. Betrieblich besonders ist der Turmbahnhof, wo sich die Strecken Münster - Recklinghausen - Essen und Enschede (NL) - Gronau - Dortmund in einem rechten Winkel auf einer Brücke kreuzen, ohne dass eine Verbindung zwischen den Strecken besteht. O.k., so wirklich aufregend ist das nicht. Der "obere Bahnhof" an der Strecke von den Holländern nach Dortmund ist auch nicht mehr als eine bessere Haltestelle mit einem offenbar nicht planmäßig genutzten Ausweichgleis. Der wenige Minuten später vorbei kommende "Talent"-Triebwagen der DB ist dann auch gleich meiner. Die Fahrt nach Dortmund zeigt mir viel originale Eisenbahn-Infrastruktur mit Formsignalen und Klingelschranken. Gleich mal merken, falls ich einmal Langeweile haben sollte.
Dülmen oberer Bahnhof. Löblich: kürzeste Wege zwischen Bus und Zug!


In Dortmund gibt es neben den 08/15-Verkehrsmitteln á la Straßenbahn oder Bus noch ein besonderes System, die "H-Bahn". Sie stammt aus einer Zeit, da man noch nicht alles mit englischen Namen umschrieb, denn das "H" steht auf gut deutsch für "Hänge". Das System arbeitet vollautomatisch und verbindet verschiedene Bereiche der Dortmunder Universität auf mehreren Streckenästen miteinander bzw. mit der S-Bahn.Station. Vom Grundprinzip her ist es "nur" eine moderne Version der Wuppertaler Schwebebahn, mit der ich sodann ein paar Runden drehe. Interessant, fürwahr. Doch so richtig durchgesetzt hat sich das System mit Ausnahme einiger Leute-Beweger... ähem: "People-Mover" auf Flughäfen aber nicht.
Hach! Einmal im Leben... nicht durch Wuppertal, sondern über den Dortmunder Uni-Campus schweben!


Nachdem ich ausgeschwebt und wieder festen Boden unter den Füßen habe, steige ich in der unterirdischen S-Bahn-Tunnelstation vor Schreck in einen Zug in die falsche Richtung. Wie doof muss man sein? Also am nächsten Halt raus, auf den anderen Bahnsteig gehen und zurück fahren. Peinlich! Zum Glück hat´s niemand gesehen.

In Dortmund Hauptbahnhof warten zwei- und dreiteilige Pesa-"Haie" polnischer Provenienz auf unschuldige Reisende. Auch ich vertraue mich einem solchen Gefährt an. Immerhin: Sitz- und Fensterteiler sind perfekt aufeinander abgestimmt. Warum bekommen wir Deutschen das nicht hin? Andererseits: wozu braucht man überhaupt noch Zugfenster, wenn fast alle Fahrgäste sofort nach dem Einsteigen sowieso reflexartig nach ihrem Smartphone greifen und in ihre Parallelwelt abtauchen?
Sag "Hei!" zum Hai!


Ich fahre über Schwerte nach Iserlohn. In Iserlohn treffen sich zwei Strecken in einem kleine Kopfbahnhof. Die Optimierer der DB Netz AG haben es allerdings vollbracht, sämtliche Verbindungen zwischen den beiden Strecken zu kappen! So liegen die beiden Gleise nebeneinander und sehen aus wie ein Bahnhof, doch sind es zwei völlig getrennte Haltepunkte ohne eine Weiche. Hurra! Wahrscheinlich hat ein Planer für diese grandiose Idee noch eine Belobigung bekommen.

Vielleicht etwas zukunftsträchtiger ist man in Iserlohn dagegen vor dem Bahnhof aufgestellt: ebenso fahrerlos wie vorhin die H-Bahn kurven hier kleine "Busse" durch die Stadt. Sie verbinden den Bahnhof mit dem dortigen Uni-Campus (interessant, welche Kleinstädte sich so alle "Universitätsstadt" nennen). Das Projekt nennt sich "a-Bus". Wofür das kleine "a" steht erfahre ich nicht. Aber dass das Projekt deutlich moderner sein muss als die profan-deutschsprachige H-Bahn erkennt man daran, dass das ganze einen englischen Projektnamen trägt: "new mobility lab". Mir bringt das aber nothing, denn die nächste Abfahrt soll erst in 20 min stattfinden. Also, nichts mit dem angepriesenen "on demand"-Verkehr - mein Demand bleibt jedenfalls unerfüllt.
Von wegen "on demand" - Abfahrt erst in 20 min. "a-Busse" in Iserlohn.


Der Rest des Tages verläuft vergleichsweise unspektakulär, zumal es inzwischen wieder komplett zugezogen hat. Von Iserlohn fahre ich auf der anderen der sich hier "treffenden" Strecken hinunter nach Letmathe, wo ich auf die Ruhr-Sieg-Strecke stoße. Dort trifft der gutwillige Kunde auf eine Stilblüte des Systems Eisenbahn: Der Fahrkartenverkauf am Bahnhof wurde im Wust der atomisierten Zuständigkeiten und Ausschreibungen eingestellt, aber in den Zug einsteigen darf man nur mit gültigem Fahrausweis. Probleme, die ein Autofahrer nicht kennt.
Willkommen in Letmathe: Fahrkarten gibt´s nicht mehr, aber ohne Ticket einsteigen darf man auch nicht. Liebe Verantwortliche: merkt ihr denn so etwas nicht?


Die Verspätung einer der dort nun verkehrenden Intercity-Züge ermöglicht es mir, auf diesen Richtung Süden umzusteigen und via Siegen und Wetzlar nach Friedberg sowie von dort - wegen Bauarbeiten - mit S-Bahn und Schienenersatzverkehren nach Frankfurt am Main zu fahren. Also quasi genau so, wie meine Deutschlandreise am Tag 3 begann. Nur damals ohne Schienenersatzverkehr und mit einer netten Bekanntschaft im ICE. Einen Handschuh habe ich dieses Mal auf dem Nachbarsitz nicht gefunden.


Danke für´s Lesen und gute Fahrt in allen Zügen! Auch, wenn es einem die Eisenbahn leider nicht immer ganz einfach macht, sich bei ihr wirklich wohlzufühlen.



www.desiro.net